Die Runen der Macht - Göttliche Rache (German Edition)
verloren, und nur darum vermochte sie die Panik abzuwehren. Ihre Erinnerungen daran waren nichts als Schmerz gewesen, der verstörende Verlust des Zentrums und schließlich das schwere Gefühl von Trennung. Es hatte sich, kurz gesagt, so angefühlt, als sei ein Teil von ihr amputiert worden.
Sorcha hatte beinahe Angst davor, schloss aber die Augen und tastete sich an der Verbindung entlang wie jemand, der sich einmal verbrannt hat und fürchtet, dass es noch mal geschieht.
Sie brauchte einen Moment, um zu dem Ort zu gelangen, an dem Merrick hätte sein sollen. Er war leer, aber es war nicht die schmerzhafte Leere, die der Tod verursachte. Ihr Partner war nicht da, aber die Verbindung blieb unverändert bestehen.
»Ich glaube nicht, dass er tot ist«, murmelte Sorcha und wollte nicht den Eindruck erwecken, dies sei nur Wunschdenken, »aber er ist nicht in dieser Welt.«
»Sondern in der Anderwelt? Aber da kann er doch nicht überleben?« Raed beugte sich vor und nahm ihre Hand.
Der Junge Prätendent war sich der Natur der Anderwelt zweifellos bewusster als jeder andere normale Mensch im Reich, aber jedes Kind im Reich wusste, dass dort nur Geister überleben konnten. Fleisch war nicht dazu bestimmt, an einem Ort zu existieren, der aus Leere und Seele bestand. Sorcha stieß einen langen Atemzug aus und spürte den bitteren Geschmack der Hilflosigkeit.
Sie musste an ihrem Glauben an ihren Partner festhalten. »Du kennst Merrick genauso gut wie ich, Raed. Er ist ein bemerkenswerter junger Mann – und wenn jemand überleben kann, dann er.« In ihrem Hinterkopf gab es zwei kleine Dinge, die sie ihrem Geliebten verschwieg. Das Erste war, so verrückt es klang, dass sie in der Anderwelt einige Verbündete besaßen. Das Zweite war die Existenz eines wilden Talents in Merrick.
»Und wir haben immer noch einen Mörder dort draußen und müssen deine Schwester finden – konzentrieren wir uns darauf. Wir können im Moment nichts tun, um Merrick zu helfen.«
»Du könntest selbst eine Tür öffnen …«, schlug Raed vor.
Sie schüttelte langsam den Kopf. »Das sollte man nicht leichtfertig tun – und selbst wenn ich hindurchgehen würde, wäre ich ohne Merrick blind.«
Raed legte die Hand auf die Augen und rieb sie erschöpft.
»Wie du dir vorstellen kannst«, flüsterte Sorcha, »wäre ein blinder Diakon in einer Welt voller wütender, rachsüchtiger Geister nicht besonders sinnvoll. Wir sollten uns auf das konzentrieren, was wir tun können.« Es klang überaus vernünftig, überaus systematisch – und beinahe so, als hätte sie ihren Frieden mit diesem Gedanken gemacht. Das war sehr weit von der Wahrheit entfernt.
»Und was genau können wir tun, Diakonin Faris?« Raed sah sie so streng an, dass sie sich an Merrick erinnert fühlte.
Sorcha steckte ihre Handschuhe zurück in den Gürtel. »Ich bekomme allmählich das Gefühl, der Prinz von Chioma interessiert sich gar nicht näher für den Kaiser, sondern wollte aus einem anderen Grund, dass Merrick und ich hierbleiben. Ich schlage vor, wir fragen ihn nach diesem Grund.«
Raed zog die Brauen hoch. »Du willst den höchsten Prinzen dieses Königreichs einer Befragung unterziehen? So einfach ist das?«
»Für Diakone … ja, doch.« Als Raed sie schockiert ansah, lächelte Sorcha. »Wir sind mit der Jagd auf die Unlebenden überall im Reich beauftragt – ohne Ausnahmen.«
Der Junge Prätendent küsste sie; es war ein sanfter Kuss, bei dem es nicht um Leidenschaft ging. Es war genau das, was sie brauchte. Zurück zum Garten ging Sorcha voran. Keine Wache bemerkte, dass sie nur noch zu zweit waren – sie alle waren zu sehr damit beschäftigt, verängstigte Frauen zu beruhigen und sie daran zu hindern, die grausam zugerichteten Leichen zu sehen.
Sie zog Raed ins Dunkel und legte ihm kurz die Hand auf die Brust. Der schwache Teil ihres Selbst wollte ihm in die Arme fallen, wollte geküsst und umsorgt werden – aber Sorcha war noch nie so eine Frau gewesen. »Ich denke nicht, dass wir das Risiko eingehen können, dich in die Frauenquartiere zurückzubringen. Triff mich morgen früh im Vorzimmer des Audienzgemachs.«
In ihren vier Wänden war die Dunkelheit nicht freundlich, sondern lag warm und schwer auf ihr wie eine unwillkommene Decke. Sie musste an Merrick denken, obwohl sie wusste, dass sie sich eigentlich über Raed und den Schutz seines Lebens Gedanken machen sollte. Die Vision des Gespensts hatte sich in ihre Erinnerung eingebrannt, wurde aber von der
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