Die Runen der Macht - Göttliche Rache (German Edition)
vertraut, hell, weiblich, und plötzlich spielten die Anderwelt, die Sterne und die Präsenz nicht mehr die geringste Rolle.
Merrick drehte sich um, wirbelte im Raum, als würde er schwimmen, und da war sie.
»Nynnia«, flüsterte er, und sofort schossen ihm die Tränen in die Augen, noch während sich auf seinem Gesicht ein Lächeln ausbreitete.
Sie war für ihn gestorben, war für die Menschen einer Welt gestorben, die nicht ihre eigene gewesen war – und er hatte nie aufgehört, sie zu vermissen. Ihr dunkles Haar und ihre zierliche Gestalt waren genau so, wie Merrick sie in Erinnerung gehabt hatte, und ihre Augen blickten aus dem süßesten Gesicht, das er je gesehen hatte. Der einzige Unterschied war, dass sie in der Luft schwebte und er durch ihren Körper Sterne sehen konnte. Und er kannte den Grund dafür – sie hatte keinen Körper.
»Liebster Merrick.« Sie kam näher, und er war so froh, dass sie genauso lächelte wie er. Für einen Moment wusste er sich vor Freude nicht zu fassen. Seit ihrem Tod war alles grau gewesen, aber jetzt war die Welt wieder hell. Selbst wenn es nicht Merricks Welt war.
Doch Nynnias Miene wurde plötzlich furchtbar traurig. »Es tut mir leid, dass ich dich herbringen musste.« Ihre Stimme wurde etwas von der großen Leere verschluckt, die sie umgab.
»Aber nicht doch.« Er öffnete die Arme. »Die Erklärung ist mir völlig egal, wirklich.«
Sie blickte auf seine Arme, und als sie vortrat, begann er ihren Kummer zu verstehen. Ihre schimmernde Gestalt glitt durch ihn hindurch, ohne dass er die geringste Wärme und Berührung empfand. Merricks Magen krampfte sich vor Enttäuschung zusammen, und sein Zorn über ihren Tod flammte von Neuem auf.
Als spürte sie das, zog Nynnia sich zurück und legte ihm ihre ätherische Hand leicht und genau ans Gesicht, um nur nicht wieder die Illusion zu zerstören, dass sie ihn berühren konnte. »Du darfst nicht lange hierbleiben, mein Liebster.« Sie zeigte nach unten, und Merrick folgte ihrer Geste mit dem Blick.
Unter ihm erstreckte sich die Anderwelt wie eine albtraumhafte Vision. Plötzlich wurde ihm wieder jedes Detail seiner spirituellen Reise hierher bewusst. Das drängende Chaos der Geister und menschlichen Seelen war ein furchteinflößender Anblick, der sich von einem fernen Horizont zum anderen erstreckte. Und es war nicht still – von unten waren Schreie, Geheul und Panik zu hören.
Doch er schwebte darüber, sicher aufgehoben in dem gemalten Sternenzelt. »Du …« Er räusperte sich. »Du hältst mich hier oben fest?«
Das Lächeln auf ihrem Gesicht war leicht erheitert. »Ich konnte dich doch nicht fallen lassen – nicht, wenn ich vorhatte, dich zu retten.« Ihr Körper schimmerte und verwandelte sich in silbernes Licht, das ihn umschlang und durchdrang.
Und dann flog Merrick. Er spürte zwar keinen Wind, aber es war trotzdem ein erstaunliches Erlebnis. Die Sterne verschwammen, und die gewaltige Albtraumlandschaft glitt unter ihm vorbei. Obwohl es gefährlich war, in der Anderwelt zu sein, wollte er jauchzen und schreien, wie er es seit dem Tod seines Vaters nicht mehr getan hatte – seit er ein Kind gewesen war.
Am Horizont ragte ein Berg vor einem goldenen Himmel auf, ein Berg, auf den sich ein Strom menschlicher Gestalten zubewegte.
»Wenn sie ihn erreichen« – Nynnias Stimme klang warm – »sind sie in unserem Bereich.«
Und er sah, was sie meinte. Eine gewaltige Festung war in den Fels gehauen, und sie erstrahlte im selben goldenen Licht. Plötzlich konnte er über das Glück hinausdenken, Nynnia nicht verloren zu haben. Der Diakon begriff: Vor seinen Augen lag, worüber so viele Gelehrte des Ordens jahrhundertelang theoretisiert und gestritten hatten. Einige ihrer Ideen über das, was sich in der Anderwelt befand, waren extrem und ziemlich bizarr – aber keine ließ sich mit dem hier vergleichen.
Nynnias Wärme hüllte ihn ein, und sie flüsterte ihm ins Ohr: »Dies ist mein Zuhause, Merrick. Der Ort, den ich verlassen habe, um in deine Welt zu gehen. Kommt dir etwas daran bekannt vor?«
Verblüfft versuchte er, sich zu orientieren. Er betrachtete die weitläufige Festung und konzentrierte seine logischen Sinne auf sie. Die langen Mauern waren mit unglaublichen Friesen geschmückt, die alles Leben in Arkaym darstellten, die Türme von seltsamen, reich verzierten Kuppeln bekrönt, in denen sich glänzend das Licht des verrückten Horizonts spiegelte. Etwas Ähnliches hatte er noch nie gesehen – bis
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