Die Runen der Macht - Göttliche Rache (German Edition)
und stolz und sah direkt zur Darstellung Hatipais auf.
Unbewusst griff die Großherzogin sich an die Kehle, weil zwei Dinge sie zutiefst verstörten. Der mit so viel Dramatik und Präzision wiedergegebene Mann war ihr unbekannt, trug aber etwas, wovon sie gelesen hatte. Über den geheimnisvollen Kopfschmuck des Prinzen von Chioma war oft berichtet worden. Sie hatte von diesem Herrscher gehört, der selten die Grenzen seines Landes überschritt und dessen Gesicht nie zu sehen war.
In dem Fries hatte der Künstler den Kopfschmuck sehr detailliert wiedergegeben und mit durchsichtigem Glas in verschiedenen Farben geschmückt, sodass er im Kontrast zu den anderen Teilen des Bildes förmlich brannte.
Das zweite Detail, das bei der Großherzogin Stirnrunzeln hervorrief, war die Darstellung ihrer Göttin. Sie war ganz anders als die Bilder im Tempel oben. Diese Hatipai war ein Albtraum, das Haar stand ihr wie ein Nest zorniger Schlangen ab, und lange, raubtierhafte Zähne prangten in einem weit aufgerissenen Mund – doch sie wusste, dass es ihre Göttin war, wegen des Symbols, das vor ihr hing.
Darunter standen Worte geschrieben, ganz offenkundig, aber keine, die Zofiya – trotz ihrer königlichen Erziehung – verstehen konnte. Eine verlorene Sprache; so musste es sein. Das war schrecklich enttäuschend, und sie beschloss, darüber einige Gelehrte eindringlich zu befragen, wenn sie erst wieder über der Erde wäre.
Wie in Vermillion folgte sie dem Fries bis zum Ende des Raums. Hier war das Bild noch merkwürdiger: Der Prinz von Chioma rang mit der Albtraumvision Hatipais, und es sah aus, als würde er etwas von ihr fortziehen. Zofiya beugte sich vor, bis das kalte Metall von ihrem Atem beschlug.
Der Prinz schien ihrer Göttin eine Kapuze entreißen oder vielleicht die Haut abziehen zu wollen, während die Bewohner Chiomas schrien, sich die Ohren zuhielten und den Mund vor Schmerz grausig verzerrten.
»Was ist das?«, murmelte sie, während ihre Fingerspitzen dicht vor dem Metall verharrten.
Ein lautes Klirren hallte durch den Raum, und Zofiya machte einen Satz zurück. Es war eine Angstbekundung, und sie war froh, dass keiner ihrer Kaisergardisten sie gesehen hatte.
Das Licht wurde heller, die Augen der Menschen strahlten sie an, und Dinge verlagerten sich. Gleich jenseits des Lichts erklang ein metallisches Rattern, und sie fragte sich, ob ein Metallriese sich regte.
Das Flüstern begann: leise, beharrlich und von Sekunde zu Sekunde lauter. Zofiya machte noch einen Schritt und sah sich um, konnte aber nicht erkennen, woher das Geräusch kam. Es war unmöglich, dass andere Menschen mit ihr in dem Raum waren, aber vielleicht war es das Wispern von Schatten, die an diesem schrecklichen Ort gefangen waren.
Sie war keine Diakonin, hatte keine Waffen, die einem Geist etwas anhaben konnten – aber sie hatte den Glauben ihrer Göttin, der in ihr brannte, und ihre Göttin hatte ihr aufgetragen, hierherzukommen. Also stand Zofiya reglos in der Mitte des Raums und wartete darauf, was da kommen würde.
Allmählich begannen die Flüstergeräusche in Sprachen überzugehen, die Zofiya kannte. Neben dem Kaiserlichen Dialekt konnte sie mindestens zehn bekannte einheimische Mundarten ausmachen. Was sie hörte, ließ ihr das Herz gefrieren.
Wer bist du?
Stirb in der Dunkelheit, wenn du das Blut nicht hast.
Wer bist du?
Sag, wer du bist!
Sie richtete sich auf, als die Kälte im Raum zu einer verdächtigen Wärme wurde, und krampfte die Hand um ihren Schwertgriff. Doch da war nichts, was sie angreifen konnte, keine Bedrohung zu erkennen – nur ein Gefühl von Verhängnis, das aus der unbekannten Dunkelheit auf sie zukam.
Zofiya nahm die Schultern zurück und sprach so laut und fest, wie sie ihren Vater im fernen Delmaire von seinem Thron hatte sprechen hören. »Ich bin Großherzogin Zofiya Nobylchuin. Mein Vater ist König von Delmaire, mein Bruder gekrönter Kaiser von Arkaym, und ich bin die Zweite in der Thronfolge des Reichs.«
Es war alles wahr. Doch über diesen letzten Teil hatte sie nie richtig nachgedacht, ehe sie ihn in die Schwärze geschrien hatte. Zofiya stand keuchend da, vergaß für den Moment ihre Angst vor diesem Raum und erinnerte sich stattdessen an die seltsamen Blicke ihres Bruders, an die gemurmelten Gespräche am Hof, wenn sie vorüberging, und schließlich an die spezielle Aufmerksamkeit, die mehrere Herzöge ihr gezollt hatten.
Die neue, recht schwankende Dynastie auf dem Thron bestand allein
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