Die russische Gräfin
Latterly noch in diesem Haus beschäftigt? Ich bin soeben von einer Auslandsreise zurückgekehrt und muß noch heute abend weiter aufs Land fahren. Ich würde gern eine dringende Angelegenheit, die einen gemeinsamen Freund berührt, mit ihr besprechen und sie vielleicht um ihren Rat bitten.«
Das war zwar nicht gelogen, aber seine Wortwahl legte den Schluß nahe, es handle sich um einen medizinischen Notfall. Nun, er hatte keinerlei Interesse daran, dieses Mißverständnis auszuräumen.
»Ja, sie ist noch bei uns, Sir«, antwortete der Lakai. »Wenn Sie bitte eintreten möchten, werde ich fragen, ob sie mit Ihnen sprechen kann.«
Monk wurde in die Bibliothek geführt, einen altmodisch, aber bequem eingerichteten Raum. Das Leder der Sessel zeigte Benutzungsspuren, und die Farben des Teppichs waren an den seltener betretenen Rändern leuchtender. Im Kamin brannte ein munteres Feuer. Monk hätte hier in Hunderten von Büchern herumblättern können, wenn er gewollt hätte, aber er war zu ungeduldig, um eins aufzuschlagen, geschweige denn, sich auf den Inhalt zu konzentrieren. So marschierte er hektisch hin und her und machte alle sieben Schritte abrupt kehrt.
Nach gut zehn Minuten ging die Tür auf, und Hester trat ein. Sie trug ein blaues Kleid, das ihr außerordentlich gut stand. Dazu wirkte sie frisch und aufgeräumt. Kein Vergleich zu ihrer Erschöpfung bei ihrer letzten Begegnung! Ihre Wangen waren leicht gerötet, und ihr Haar glänzte. Das gab Monk den Rest. War es ihr denn egal, daß Rathbone am Rande des Abgrunds stand? Oder war sie zu dumm, die Brisanz der Situation zu erkennen?
»Sie sehen aus, als hätten Sie frei«, sagte er schroff.
Sie warf einen Blick auf seinen perfekt geschnittenen Frack, sein makelloses Halstuch und die sündteuren Stiefel. »Wie schön, daß Sie gesund und wohlbehalten daheim gelandet sind!« strahlte sie. »Wie war es in Venedig? Und in Felzburg? Dort waren Sie doch, oder?«
Er ging nicht darauf ein. Sie wußte es ja ohnehin. »Was machen Sie noch hier, wenn Ihr Patient sich erholt hat?« fuhr er sie an.
Sie sah ihm mit ernstem Blick in die Augen. »Es geht ihm besser, aber es wird noch lange dauern, bis er sich daran gewöhnt hat, daß er nicht mehr laufen kann. Es gibt Tage, da ist es sehr schwer. Wenn Sie sich nicht vorstellen können, unter welchen chronischen Schwierigkeiten von der Hüfte ab gelähmte Menschen leiden, möchte ich nicht noch weiter in seine Intimsphäre eindringen und auf eine Erklärung verzichten.
Bitte lassen Sie Ihre schlechte Laune nicht an mir aus, sondern erzählen Sie mir lieber, was Sie für Sir Oliver erreicht haben.«
Es traf ihn wie eine Ohrfeige. Jäh wurde Monk daran erinnert, daß Hester in seiner Abwesenheit mit einem der schmerzlichsten Schicksalsschläge zu tun hatte – dem abrupten Ende eines vielversprechenden Lebensbereichs und hoffnungsvoller Zukunft eines jungen Menschen. Aber noch schwerer zu ertragen war die freudige Erwartung in Hesters Gesicht, ihr Vertrauen in ihn. Und was brachte er ihr? Er mußte ihr gestehen, daß er nichts erreicht hatte.
»Gisela hat Friedrich nicht getötet«, sagte er leise. »Es war physisch nicht möglich, und sie hatte auch keinen Grund: Sein Tod hätte ihr mehr geschadet als genützt. Ich kann Rathbone nicht helfen.« Während er das sagte, schwoll sein Zorn auf Rathbone wieder an. Er verübelte ihm seine Verletzlichkeit, seine Dummheit, mit der er in diese heillos verfahrene Situation geschlittert war, und seine groteske Hoffnung, er, Monk, würde ihn da rausholen. Und auf Hester war er nicht minder ärgerlich, weil sie das Unmögliche von ihm erwartete und dann auch noch Rathbone so gern mochte. Er sah sie ihrem Gesicht geradezu an, diese unendliche Leidensfähigkeit!
Sie prallte benommen zurück, und es dauerte mehrere Sekunden, bis sie die Sprache wiederfand. »War es… wirklich nur ein Unfall?« Sie schüttelte den Kopf, als wolle sie einen lästigen Gedanken verscheuchen, aber die Angst ließ sich nicht aus ihren Augen bannen. »Gibt es denn nichts, womit Sir Oliver zu helfen wäre? Irgendeine Entschuldigung für die Gräfin vielleicht? Wenn sie geglaubt hat…, daß es einen Grund gegeben haben muß… Ich meine…« Sie verstummte.
»Natürlich hatte sie einen Grund«, erwiderte er gereizt, »aber keinen, der ihr notwendigerweise vor Gericht nützen würde. Es sieht eher nach einer alten Eifersuchtsgeschichte aus, über die sie einfach nicht hinwegkam. Und da hat sie geglaubt,
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