Die russische Herzogin
lebendig machen; er wohnt ja in euch.
Darum, liebe Brüder, müssen wir nicht länger den Wünschen und dem Verlangen unserer alten menschlichen Natur folgen. Denn wer ihr folgt, ist dem Tode ausgeliefert. Wenn du aber auf die Stimme Gottes hörst und ihr gehorchst, werden die selbstsüchtigen Wünsche in dir getötet, und du wirst leben.
Alle, die sich vom Geist Gottes regieren lassen, sind Kinder Gottes. Denn der Geist Gottes führt euch nicht in eine neue Sklaverei; nein, er macht euch zu Gottes Kindern. Deshalb dürft ihr furchtlos und ohne Angst zu Gott kommen und ihn euern Vater nennen. Gottes Geist selbst gibt uns die innere Gewissheit, dass wir Gottes Kinder sind … «
»Das Neue Testament«, sagte Wera in einem Ton, der besagte: Nicht schon wieder die Bibel! Täglich musste sie unter Madame Trupows Aufsicht stundenlang darin lesen, ellenlange Passagen daraus abschreiben. »Dass wir alle Gottes Kinder sind, ist ja schön und gut, aber was willst du mir damit sagen?«
»Nicht ich, Gott will dir damit etwas sagen. Nämlich, dass nichts auf dieser Welt ohne Grund geschieht. Vielleicht verstehen wir nicht immer, was Gott mit uns vorhat, aber je williger wir uns in seine Hände begeben, desto froher wird es uns ums Herz. Du bist nicht nur das Kind deiner Eltern, du bist auch Gottes Kind. Er ist immer für dich da, er hat immer Zeit für dich – ist dieser Gedanke nicht tröstlich? Mich trägt dieser Text schon viele Jahre durchs Leben, und später soll er einmal mein Sterbetext werden.« Bevor Olly wusste, wie ihr geschah, umarmte Wera sie so heftig, dass ihr die Luft wegblieb.
»Aber liebste Tante, du darfst doch nicht schon jetzt ans Sterben denken! Wenn du hier auch unglücklich bist, dann lass uns fliehen! Wir suchen uns einen Ort, wo uns keiner weh tut. Wo alle Menschen lieb sind. Meinetwegen darf Evelyn auch mitkommen, und Eugen von Montenegro, aber sonst niemand!«
Olga befreite sich lachend aus Weras Umklammerung.
»Das machen wir, Kind. Gleich morgen packen wir unsere Koffer.«
Indieser Nacht lag Wera noch lange wach. Von irgendwoher war das leise Wehklagen eines Streichquartetts zu hören. Oder war es nur das Echo der tausend Gedanken, die in ihrem Kopf umherschwirrten? Würde Gott ihr wirklich dabei helfen können, ihre selbstsüchtigen Wünsche zu töten? War es wirklich egoistisch von ihr, bei ihrer Familie leben zu wollen?
Und meinte Olly es tatsächlich ernst mit ihrer Flucht aus Stuttgart? Würde doch noch alles gut werden?
Ihre Arme waren lahm vor Müdigkeit, als sie im flackernden Kerzenlicht in der Nachttischschublade herumkramte. Endlich holte sie einen zerknitterten Zettel hervor.
»Du kannst so reich sein wie Krösus, so schön wie eine Blume, so weise wie Salomon, so stark wie ein Bär – mangelt es dir jedoch an der Liebe, so bist du ein armer Wicht.«
Das war ihr Leitspruch. Iwanka, die polnische Frau von Vaters Leibkutscher, die im Hause ihrer Eltern Mädchen für alles war, hatte ihn einmal gesagt, und Wera hatte ihn sich gleich aufgeschrieben. Als sie nun auf den zerknitterten Zettel mit den krakeligen Buchstaben schaute, fragte sie sich allerdings, welchen Trost sie je darin zu erkennen geglaubt hatte.
9. KAPITEL
N ormalerweise packte Olly erst später im Jahr ihre Koffer. Im Frühjahr 1864 verließ sie allerdings schon Ende März das Kronprinzenpalais. Ein Umzug in ihre Villa Berg und die damit verbundenen neuen Eindrücke würden Weras Trennungsschmerz vielleicht ein wenig lindern, hoffte sie. Und so fuhren an einem sonnigen Tag ein halbes Dutzend Fuhrwerke, beladen mit der Garderobe der Familie, Büchern und anderen Lieblingsstücken, in Richtung der Stadtvilla.
Olly, die in ihrem Coupé ganz vorne fuhr, atmete auf. Weg, nichts wie weg vom Schloss und von Wilhelm und all den damit verbundenen Querelen! Endlich wieder durchatmen können. Sich einbilden können, frei zu sein. Und glücklich.
Normalerweise war der Umzug in ihr Sommerquartier außerdem ein jährliches Ritual, das Karl und sie gemeinsam begingen. Doch Karl war im Landtag beschäftigt, wo wieder einmal heftig darüber debattiert wurde, wer nun, da König Wilhelm schwer krank war, die Regierungsgeschäfte führen sollte. Wilhelm traute dies seinem Sohn scheinbar nicht zu, er wollte die Belange seines Landes durch die Ministerriege geregelt wissen. Doch ein solches Vorgehen war in der Landesverfassung nicht vorgesehen, vielmehr musste der in der Erbfolge nächststehende Thronfolger die sogenannte
Weitere Kostenlose Bücher