Die Saat der Bestie (German Edition)
konzentrieren versucht, so muss sie sich doch eingestehen, dass sie sich in einer weit schlechteren Verfassung befindet, als sie angenommen hat. Sie setzt sich auf die Stufen, schließt die Augen und atmet tief durch.
Nachdem die Welt ringsum zu tanzen aufgehört hat, beginnt sie, langsam die Treppe emporzusteigen. Die Stufen sind glatt und ausgetreten, die Kanten des Gesteins von unzähligen Füßen abgerundet. Der Geruch von alten, leer stehenden Häusern liegt wie ein Schleier in der Luft.
Als Sam die oberste Stufe erreicht, verharrt sie still und presst sich gegen die raue Steinwand. Noch immer herrscht ein fast greifbares Schweigen vor. Sie spürt, wie sich die Klaue der Panik suchend durch ihren Leib tastet. In ihrem Gefängnis war es still gewesen. Alles, was sie in den letzten Tagen oder Jahren gehört hat, waren Bills vor Irrsinn triefende Stimme und sein erregtes Keuchen, während er sich an ihr verging. Sich jetzt durch ein Haus bar jeglicher Geräusche zu bewegen, treibt Sam an den äußersten Rand ihrer Belastbarkeit.
Sie tritt durch den Torbogen und blickt sich erstaunt um. Der Raum ist ungefähr dreimal so groß wie ihr Kerker und wird von zwei hohen Spitzbogenfenstern erhellt, durch deren geschliffenes Glas schmutziges Tageslicht träge auf im Kreis angeordnete Tische fällt. An einer Wand stehen mehrere Bücherregale und weitere, mit weißen Decken überzogene Tische.
Am gegenübergelegenen Ende des Raumes kann Sam eine schmale Holztür erkennen, die scheinbar ins Freie führt, denn direkt darüber befindet sich ein kleines, kreisrundes Fenster. Ihre Neugierde wird jedoch von einer hohen, mit Ornamenten verzierten Flügeltür geweckt, die von deckenhohen Bücherregalen flankiert wird. Ein Blick über die antiquarisch anmutenden Buchrücken verrät, dass es sich zum großen Teil um theologische Schriften handelt. Dazwischen erkennt sie neuere Bücher über Familienberatung, Jugendzentren und Historien verschiedener Kirchen.
In Sam steigt ein schrecklicher Verdacht auf.
Sie greift nach den glänzenden Messingklinken der Flügeltür. Ein feines Knarren zerteilt die Stille des Gebäudes wie das mürrische Schnarchen eines Schlafenden. Kalte, abgestandene Luft schlägt ihr entgegen, dazu der uralte Geruch von Schimmel, Holz und Weihrauch.
»Der Bastard hat mich in eine Kirche geschleppt«, flüstert sie und starrt in den Chorraum. Durch ein Rosettenfenster fällt trübes Licht in feinen Strahlen auf den Boden.
Sam tritt einen Schritt in den Chor und blickt eine breite Treppe hinab, die zum Altarraum der Kirche führt. Die erhabenen Blicke von Heiligenstatuen scheinen sich allesamt auf sie zu richten. Durch riesige, in Blei gefasste Buntglasfenster fließt schimmeliges Tageslicht ins Innere der Kirche und legt eine feingesponnene Decke aus tanzendem Staub über dunkle Holzbänke, Steinbecken und Kandelaber mit weißen Kerzen. Die hohen Stützbogen des Mittelganges bleiben in der Dunkelheit verborgen.
Ein tiefes, ergreifendes Schweigen herrscht in dem hallengleichen Raum, wodurch die imposante Größe nur noch erdrückender auf Sam wirkt. Bill hat mich vor den Augen Gottes geschändet. Sie denkt an den ketzerischen Schriftzug an der Wand ihres Kerkers. Bill hat mit diesen Worten nicht nur Sam erniedrigen wollen, vielmehr hat er damit sein Aufbegehren gegen Kirche und Gott zum Ausdruck gebracht. Er hat sich lustig darüber gemacht, dass die Menschen selbst in den Tagen, als die Katastrophe begann und nicht mehr aufzuhalten war, ihren Weg zu Gott und seinen Gebetshäusern gesucht hatten. Der Schriftzug war seine persönliche Genugtuung dafür, dass Gott sowohl ihn als auch den Rest der Menschheit im Stich gelassen hat. Er hat das Haus Gottes in eine perverse Höhle des Bösen verwandelt.
Sam ist versucht, weiter in die Kirche einzudringen. Sie spürt plötzlich eine tiefe Ruhe in sich, doch sie weiß, dass diese nicht von der Würde des Kirchenhauses herrührt. Es ist vielmehr der lodernde Hass auf Bill, der ihren Verstand rational funktionieren lässt und ihre tiefsitzende Furcht mit einer Maske kaschiert.
Plötzlich fühlt sie sich beobachtet. Nicht von menschlichen Augen, sondern von Gott selbst, der auf sie herabblickt und in ihre Gedanken eindringt. Hass ist an einem Ort wie diesem nicht erwünscht, und doch glaubt sie, eine stumme Zuneigung von jener Präsenz zu erhalten, die jeden Winkel und jeden Erker der Kirche ausfüllt und sie mit einer Kraft erfüllt, die sie während der Zeit ihres
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