Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
Großteil seines Lebens auf einer hohen Säule verbracht hatte. Obgleich an seiner Fähigkeit zur Selbstentsagung kein Zweifel bestehen konnte, hatte Philip immer einen heimlichen Zweifel am tatsächlichen Wert seines Bekenntnisses gehegt. In Scharen waren die Menschen zu ihm geströmt – aber waren sie wirklich gekommen, weil sie sich von ihm geistige Erbauung erwarteten, oder trieb sie bloß die Neugier, einen Sonderling zu sehen?
Nach dem Gebet wurde ein Kapitel aus dem Buch des heiligen Benedikt vorgetragen. Diesem alltäglichen Brauch verdankten die Versammlung und der Versammlungssaal ihren Namen. Remigius stand auf und sammelte sich, bevor er zu lesen begann. Philip sah ihn im Profil – und zum ersten Mal mit den Augen des Rivalen. Sein Auftreten und seine Redeweise ließen Remigius stets als einen Mann erscheinen, der genau weiß, was er will; im Widerspruch zu seinem wahren Charakter und seiner Amtsführung gelang es ihm somit, den Eindruck von Sachverstand und Kompetenz zu erwecken. Aber die genauere Betrachtung ließ bereits ahnen, was hinter dieser Fassade steckte: Seine ein wenig vorstehenden blauen Augen waren in ständiger, flatterhafter Bewegung; der schwache Mund zuckte oft nervös, bevor er zu sprechen begann, und die Hände öffneten und schlossen sich unwillkürlich, obwohl Remigius ansonsten einen ruhigen Stand hatte. Seine Autorität beruhte auf einem anmaßenden, oft launenhaften Wesen und einem herablassenden Umgang mit seinen Untergebenen.
Philip wunderte sich, dass Remigius sich dazu entschlossen hatte, das Kapitel selbst vorzutragen. Einen Augenblick später war ihm klar, warum. »Der erste Schritt zur Demut ist unbedingter Gehorsam«, las Remigius. Er hatte das fünfte Kapitel ausgewählt, das vom Gehorsam handelte, um allen Anwesenden seinen hohen Rang und ihre untergeordnete Stellung ins Gedächtnis zu rufen. Es war die Strategie der Einschüchterung – und ein raffinierter Taktiker war Remigius allemal. »Sie leben nicht, wie sie selbst leben wollen, noch gehorchen sie ihren eigenen Wünschen und Begehren; vielmehr folgen sie in den Klöstern dem Befehl und der Richtung, die andere für sie vorgeben, und ihr Streben ist darauf aus, von einem Abt geführt zu werden.« Remigius machte eine kleine Pause. »Ohne Zweifel halten sie, die sie so handeln, sich an das Wort des Herrn: Ich bin nicht gekommen, nach meinem eigenen Willen zu handeln, sondern erfülle den Willen Dessen, Der mich gesandt hat. «
Remigius gab die erwarteten Vorgaben für die entscheidende Schlacht: Er, so viel stand fest, wollte in der bevorstehenden Auseinandersetzung die althergebrachte Ordnung repräsentieren.
Dem Kapitel folgte die Fürbitte für die Verstorbenen. Alle Gebete, das verstand sich von selbst, galten an jenem Tag der Seele des verstorbenen Priors James. Der lebhafteste Teil der Kapitelversammlung war stets der Schluss: Man diskutierte über allgemeine Fragen des Klosters, bekannte seine Sünden und brachte Fehlverhalten zur Sprache.
Remigius begann die Aussprache mit den Worten: »Gestern während des Hochamts gab es eine Störung.«
Philip fühlte sich fast erleichtert. Endlich wusste er, welcher Art die angekündigte Attacke war. Er war sich nach wie vor nicht ganz sicher, ob er sich bei jenem Vorfall richtig verhalten hatte – doch er kannte seine Motive und war bereit, sich zu verteidigen.
»Ich selber war leider nicht anwesend«, fuhr Remigius fort. »Dringende Geschäfte hielten mich im Hause des Priors fest. Der Sakristan erstattete mir jedoch Bericht.«
Cuthbert Whitehead unterbrach ihn. »Mach dir deswegen keine Vorwürfe, Bruder Remigius«, sagte er in versöhnlichem Ton. »Zwar ist uns allen bekannt, dass klösterlichen Geschäften im Prinzip nie der Vorrang gegenüber dem Hochamt eingeräumt werden soll, doch wissen wir auch, dass dir durch den Tod unseres geliebten Priors viele Aufgaben zugefallen sind, die sonst gar nicht in deine Zuständigkeit fallen. Ich bin überzeugt, dass niemand hier im Saal meint, dir eine Buße auferlegen zu müssen.«
Du geriebener alter Fuchs, dachte Philip. Natürlich hatte Remigius nicht im Traum daran gedacht, einen Fehler zu bekennen – was Cuthbert freilich nicht davon abhielt, ihm großmütig Verzeihung zu gewähren. So entstand der Eindruck, es habe sich tatsächlich um ein Schuldeingeständnis gehandelt. Selbst wenn Philip nun eines Fehltritts überführt werden sollte, so stand er damit allemal noch auf derselben Stufe wie Remigius.
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