Die Saga vom Eisvolk 01 - Der Zauberbund
ist es
auffällig
! Kannst du lesen und schreiben?«
»So einigermaßen. Seht Ihr, es verhielt sich so, dass einer der kleinen Söhne auf dem Gut, wo ich lebte, sehr oft Zuflucht bei mir suchte. Ich war gewissermaßen sein Kindermädchen. Wir spielten auch zusammen. Und er wollte mich überall dabeihaben. Auch bei seinem Unterricht. Und ich war selbstverständlich darauf bedacht, so viel wie möglich mitzubekommen. Ich war wie eine ausgetrocknete Pflanze, Herr Benedikt, die Wissen trank. Ich wollte lernen und nochmals lernen – alles! Ich nahm ihre Sprache an und lieh mir die Bücher des Jungen. Ich wusste, dass ich eine Möglichkeit erhalten hatte, die andere Mädchen nicht bekommen. Das ging natürlich nur teilweise, weil ich ja nicht jedes Mal dabei war. Doch einiges habe ich wohl in meinen trägen Schädel hineingekriegt.«
»Na, nun mal langsam. Um sich in gewissem Umfang und unter den Umständen Wissen anzueignen, wie du es getan hast, braucht es Intelligenz. Woher hast du die?«
Silje dachte nach. »Meine Mutter konnte eine ganze Menge. Und ihr Vater wiederum war des Schreibens kundig. Ich meine, er schrieb, verfasste Schreiben für die Kleinbauern. Er machte auch sehr schöne Holzschnitzereien.«
»Also daher haben wir die künstlerische Ader!«, rief Benedikt aus. »Danke, Silje, nun habe ich eine Erklärung für viele deiner Gaben! Aber was war das?«
Die beiden lauschten. Oben vom Kirchturm waren schwere Schritte zu hören.
Silje starrte ängstlich zu Benedikt. Er starrte zurück.
»Spukt es hier?«, flüsterte sie, und es schien, als pflanze sich das Flüstern unter dem Gewölbe fort.
»Unsinn!«
Beide kletterten sie vom Gerüst herunter. Silje hatte keine Lust, wehrlos zwischen Himmel und Erde zu schweben, während alle Geister der Erde den Glockenturm heruntergetrampelt kamen. Sie musste sich beherrschen, um nicht davonzulaufen.
»Wer um alles in der Welt versteckt sich nur da oben?«, flüsterte Benedikt. Er trat einen Schritt näher zu ihr heran, und sie war nicht sicher, ob er sie beschützen oder von ihr beschützt werden wollte.
Sie warteten gespannt. Unwillkürlich faltete Silje die Hände. Dann knarrte die Tür zum Turm, und ein bärtiger Mann kam heraus.
»Ich habe so schrecklichen Hunger, Benedikt. Hast du ein Stück Brot für mich?«
»Was? Hier versteckst du dich – und erschreckst meine Kunstschülerin zu Tode!«
Ach so, jetzt war sie die Einzige, die Angst gehabt hatte?
»Selbstverständlich haben wir etwas zu essen. Silje, wir vergessen doch immer unsere Brote. Hol den Proviantkorb her.«
Silje lief danach und öffnete den Deckel, sodass der Mann sich bedienen konnte. Er war mittleren Alters, um die vierzig, mit scharfen Augen und gekleidet wie ein Bauer, sein Wollhemd war modern geschnitten, und an den Beinen trug er gestrickte Strümpfe.
»Ich brauche Essen für zwei«, sagte er und nahm sich reichlich.
»Hast du noch jemanden dabei?«, fragte Benedikt.
»Ja. Der junge Heming liegt da oben und verschmachtet.«
»Verschmachtet?«, sagte Silje erschrocken und ärgerte sich entsetzlich über ihre entlarvende Röte.
Der Mann lächelte. »Ja, er hat seit drei Wochen keine Frau mehr gehabt, deshalb geht es ihm schlecht. Geh hinauf zu ihm, du – mit Essen, meine ich selbstverständlich.«
»Nein, schick Silje nicht zu diesem Lümmel hinauf«, sagte Benedikt. »Sie hat eine Schwäche für ihn.«
»Oh, ich komme schon zurecht«, sagte Silje schnell. Sie wollte so schrecklich gern ihren Helden wiedersehen. Auch wenn es sie schmerzte, von seinen Frauen zu hören.
Doch sie glaubte selbstverständlich nicht daran. Ein junger Bursche, der so schön und rein von Angesicht war, konnte sich Frauen gegenüber nur edel und galant verhalten. Das war nur die Eifersucht von alten Männern, so von dem jungen Heming zu sprechen.
Sie war ihm seit jener Nacht, in der sie ihn vor dem Tod gerettet hatte, nicht mehr begegnet. Sie hatte ihn aber nicht vergessen können. Ihr großer Traum war, ihn wiederzusehen. Der Gedanke daran, wie es ihm wohl ergangen sein mochte, bedrückte sie. Und nun... Nun war er hier!
Sie nahm den Proviantkorb in die Hand und machte sich daran, die alte Stiege hinaufzusteigen. Schließlich gelangte sie an einen Absatz im Turm. Das Tageslicht drang durch zwei Luken herein. Sie hörte eine heftige Bewegung, als versuche jemand, sich zu verstecken.
»Ich bin es nur – Silje. Ich komme mit Essen.«
»Silje?« Er schien nachzudenken. Ihr erwartungsvolles Lächeln
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