Die Saga von Thale 02 - Die Macht des Elfenfeuers
war menschenleer. Fast alle, die hinter diesen Mauern ihrem Tagewerk nachgingen oder hier wohnten, befanden sich oben auf den Zinnen der Festungsmauer, um der Feier zur Tagundnachtgleiche beizuwohnen und der Göttin für die gute Ernte zu danken. Zatoc grinste breit. Der Zeitpunkt war gut gewählt. Mit etwas Glück hätte er seine Aufgabe erledigt, bevor man draußen vor den Toren die letzten Opfergaben den Flammen übergab. Zielstrebig suchte er sich seinen Weg im Schutz der Mauer bis zu der breiten Treppe, die zum Portal des Regierungsgebäudes hinaufführte.
Zwanzig Längen trennten ihn noch von den Stufen, als er innehielt und sich aufmerksam umsah. Dies war zweifellos der schwierigste Abschnitt seines Weges, denn die Gefahr, entdeckt zu werden, war auf dem freien Platz vor der Treppe am größten. Zatoc spähte angespannt nach vorn und versicherte sich durch einen kurzen Blick über die Schulter, dass ihm niemand gefolgt war. Dann atmete er noch einmal tief durch und rannte los. In geduckter Haltung legte er die zwanzig Längen zurück und hastete, drei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf. Oben angekommen, presste er den Körper im Schatten einer steinernen Wolfsstatue dicht an die Wand und gönnte sich keuchend eine kurze Pause, um wieder zu Atem zu kommen. Er wusste, dass er nicht lange säumen konnte. Möglicherweise war doch jemand in den Räumen der Inneren Festung geblieben und käme ihm unversehens entgegen. Das durfte nicht geschehen! Daher machte er sich nur wenige Augenblicke später wieder auf den Weg und verschwand lautlos in den spärlich erleuchteten Gängen.
»Kiany, sieh dir den riesigen Scheiterhaufen an!« In Manous Stimme schwang die gleiche freudige Erwartung, die alle Novizinnen des Tempels seit dem Morgen ergriffen hatte. »Wirklich beeindruckend «, erwiderte Kiany bedrückt. Das Wissen um die nahende Abreise wollte bei ihr einfach keine Feiertagsstimmung aufkommen lassen. »Ach, komm!«, versuchte Manou ihre Freundin aufzuheitern. »Vergiss Banor und die Priesterinnenmutter. Wenigstens für heute Abend. Beim Fest der Tagundnachtgleiche sollte niemand trüben Gedanken nachhängen.«
»Du hast gut reden«, erwiderte Kiany kurz angebunden. Seit sie wusste, dass man Banor eine Nachricht geschickt hatte, damit er sie nach Hause holte, erschien ihr alles sinnlos und sie konnte sich an nichts mehr freuen. Am allerwenigsten stand ihr der Sinn nach einer Feier. Lieber wäre sie im Tempel geblieben, damit sie das ausgelassene Fest nicht mit ansehen musste. Doch Manou hatte nicht nachgegeben und sie mit ihrer freundlichen, aber bestimmten Art dazu überredet, auf die Zinnen zu steigen und das Spektakel zu beobachten. Niedergeschlagen ließ Kiany den Blick von der Mauer über die Zuschauer auf dem Vorplatz schweifen, die dicht gedrängt auf die Ankunft des Abners warteten. Noch nie hatte sie so viele Menschen versammelt gesehen und der Gedanke, irgendwo dort unten in der wogenden Menge stehen zu müssen, machte ihr Angst. Zwar standen die Menschen auf den Zinnen der Festungsmauer auch dicht an dicht, doch der Raum war nur begrenzt und das Gedränge deshalb nicht so groß.
Aus den Augenwinkeln sah Kiany eine Gestalt durch das Tor der Inneren Festung huschen. Noch jemand, dem das Gedränge zu viel ist, dachte sie bei sich, wandte ihre Aufmerksamkeit aber gleich wieder dem Geschehen auf dem Vorplatz zu, wo Lachen und Rufen plötzlich erstarben und einer gespannten Ruhe wichen. »Der Abner!«, zischte Manou ihr zu und deutete mit dem Finger in Richtung der Tribüne, deren gezimmerte Brüstung mit Weinlaub und Getreidegarben geschmückt war. Von den Masten, die man an den vier Ecken der Tribüne errichtet hatte, flatterten unzählige Wimpel aus buntem Tuch in der abendlichen Brise.
Gerade betrat der oberste Druide, gefolgt von anderen hochrangigen Würdenträgern, die festlich geschmückte hölzerne Plattform, die in einer Höhe von drei Längen von der Festungsmauer aus über den Vorplatz ragte. Alle Versammelten trugen traditionelle Festtagsgewänder, die dem Anlass entsprechend in Gelb-, Goldund Rottönen gehalten waren, und angesichts des farbenfrohen Treibens vergaß Kiany für einen Augenblick ihren Kummer.
Plötzlich lief ein erstauntes Raunen durch die Menge und die Menschen deuteten zur Tribüne, wo soeben zwei weitere Gestalten die Plattform betreten hatten. Neugierig stellte sich Kiany auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können, doch der Kopf des Mannes vor ihr versperrte
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