Die Saga von Thale 02 - Die Macht des Elfenfeuers
umspielte, zeigte, dass er seiner Mutter nicht ernsthaft böse war. »Bist du bereit?«, wandte sich Naemy an Kiany.
»Wir sind so weit«, antwortete die Priesterinnenmutter an Kianys Stelle und legte der Novizin die Hände auf die Schultern. »Ich wünsche dir eine gute Reise, Kiany«, sagte sie mit einem warmen Lächeln. »Möge die Gütige Göttin dich beschützen und gesund heimkehren lassen.«
»Danke! « Plötzlich spürte Kiany wieder diese Schwäche in den Beinen und ihr Magen krampfte sich zusammen. Im letzten Augenblick unterdrückte sie den Impuls, sich in die Arme der Priesterinnenmutter zu werfen und sie zu bitten, nicht mitfliegen zu müssen. Hastig erklomm sie den ausgestreckten Flügel des Riesenalpes, von dessen Rücken Naemy ihr helfend die Hand entgegenstreckte. »Du brauchst keine Angst zu haben«, meinte sie aufmunternd, als sie Kiany half, einen sicheren Platz im weichen Nackengefieder des Vogels zu finden. »Zahir ist ein hervorragender Gleiter. Ich bin sicher, es wird dir gefallen.« Dann zeigte ihr Naemy die Schlaufen für die Füße und die breiten Ledergurte für die Hände, an denen sie sich während des Fluges festhalten konnte. Zum Schluss schlang die Nebelelfe noch einen breiten Sicherheitsriemen um Kianys Taille, der an Zahirs Geschirr befestigt war, und setzte sich hinter das Mädchen. Als der Riesenalp die Schwingen faltete und zum Höhlenausgang schritt, legte Naemy einen Arm fest um Kiany und vermittelte ihr so zusätzlich ein wenig Sicherheit.
Kiany vermied es, in die Schlucht hinabzublicken, auf deren Grund die Lichter von Nimrod wie eine Versammlung winziger Leuchtkäfer funkelten. Verstohlen sah sie zu Tabor hinüber. Auch der junge Nebelelf hatte seinen Riesenalp bestiegen und lenkte ihn neben den Reitvogel seiner Mutter an den scharfen Grat, der das Ende des Plateaus vor der Höhle bildete. Wie schön er war! Für einen Moment bedauerte sie es, dass es nicht sein Arm war, den sie um die Taille spürte. Sie seufzte leise. Eine wohliges Kribbeln breitete sich in ihrem Bauch aus, doch es blieb keine Zeit, das sonderbare Gefühl zu genießen, denn in diesem Augenblick stürzte sich Zahir in die Tiefe. Es folgte ein kurzer Sturzflug, der Kiany einen spitzen Schrei entlockte und ihr den Atem nahm. Der Fahrtwind riss ihr den Schrei von den Lippen. Sie schloss die Augen, da sie fürchtete, der Riesenalp werde auf die Stadt stürzen, doch so weit kam es nicht. Nach wenigen Herzschlägen, während Kiany Todesängste ausstand, fand Zahir die Aufwinde, fing den Sturzflug geschickt ab und glitt in sanften Kreisen immer höher hinauf, den Sternen entgegen.
Die Sonne hatte sich hinter den schroffen, schneebedeckten Gipfeln des Ylmazur-Gebirges zur Ruhe begeben. Ihr goldenes Licht war einer samtenen Dunkelheit gewichen, welche die unzähligen Sterne in der wolkenlosen Nacht wie Edelsteine auf einem juwelenbesetzten Teppich zum Funkeln brachte. Chantu erhob sich aus seinem Nest, trat an den Rand der Höhle und blickte in die sternenklare Nacht hinaus. Seit Zahir und Leilith mit Naemy und Tabor nach Nimrod geflogen waren, fühlte er sich oft einsam. Selbst die langen, ausgedehnten Flüge entlang der schneebedeckten Gipfel bereiteten ihm allein keine rechte Freude. So hatte er sich in den vergangenen Sonnenläufen darauf beschränkt, nur zur Jagd auszufliegen und den Rest der Nacht in seiner Höhle zu verbringen, während er auf die Rückkehr seiner Geschwister wartete.
»Chantu, wir kommen zurück!« Zahirs Botschaft erreichte Chantu völlig überraschend. Der Gedanke, bald wieder mit seinem Bruder fliegen zu können, ließ sein Herz höher schlagen und riss ihn aus seiner Trägheit.
»Wann seid ihr hier?«, sandte er einen Gedanken an Zahir, während er sich erhob, das Gefieder schüttelte und die mächtigen Schwingen streckte.
»Morgen! Wir haben die Festungsstadt soeben verlassen«, berichtete Zahir. »Ein heftiger Sturm hat uns aufgehalten, sonst wären wir schon früher geflogen. Jetzt hat sich das Wetter beruhigt, aber bevor die Sonne am Mittag ihren höchsten Stand erreicht, werden wir nicht in Caira-Dan ankommen.«
Morgen erst. Chantu faltete enttäuscht die Flügel zusammen. Betrübt wollte sich der junge Riesenalp wieder setzen, als ihm ein Gedanke kam. Warum flog er Zahir und Leilith nicht einfach entgegen ? Die Nacht war viel zu schön, um allein in der Höhle zu hocken. Wenn er sich sofort auf den Weg machte, konnte er seine Geschwister auf halber Strecke treffen und nach
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