Die Saga von Thale 02 - Die Macht des Elfenfeuers
fragte Naemy, der Kianys Blick nicht entgangen war. Kiany nickte stumm. Noch nie hatte sie sich den Sternen so nahe gefühlt. Weder auf dem Turm des Tempels in Nimrod noch in der frostklaren Luft ihrer Heimat, wo man die Sterne im Winter scheinbar greifen konnte. Nirgends war sie dem Himmel so nahe gewesen wie in diesem Augenblick, während sie, wie einst die Auserwählte, auf dem Rücken des Riesenalps viele hundert Längen über dem Boden ruhig dahinglitt.
Ob sich Sunnivah bei ihrem ersten Flug auch gefürchtet hat?, überlegte sie und wagte einen vorsichtigen Blick in die Tiefe, wo gerade ein spärlich erleuchtetes Dorf unter ihnen vorüberzog.
»Warte nur, bis wir Daran erreichen«, sagte Naemy, die Kiany offenbar nicht aus den Augen ließ.
»Die riesige Stadt mit ihren abertausend Lichtern ist ein so glanzvoller Anblick, dass man sich nur schwer davon losreißen kann.«
»Der Flug ist auch schon ein unvergessliches Erlebnis«, gestand Kiany aufrichtig. »Ich würde mich auch auf den Rückflug freuen -wenn nur der Abflug nicht wäre.«
»Ja, das ist nichts für zarte Seelen«, räumte Naemy lachend ein. »Aber man gewöhnt sich daran.« Sie klopfte Kiany anerkennend auf die Schulter. »Du hast dich wirklich hervorragend gehalten. Ich habe deine Ängste gespürt alle Achtung. Andere wären vermutlich außer sich geraten.«
»Danke!« Das unerwartete Lob tat Kiany gut und sie nahm sich vor, ihre Furcht auch bei Beginn des Rückflugs nicht zu zeigen.
»Tabor findet das übrigens auch«, bekräftigte die Nebelelfe ihre Anerkennung.
»Woher wisst Ihr das ? «, fragte Kiany verwundert. Sie war sicher, dass Tabor, der mit Leilith einige Längen hinter ihnen flog, nichts zu ihnen herübergerufen hatte.
»Wir Nebelelfen brauchen keine Sprache, um uns etwas mitzuteilen«, erklärte Naemy lächelnd.
»Wie könnt Ihr denn ... ? « Kiany brach mitten im Satz ab und erstarrte. In ihrem Geist ertönten
grauenhafte Schreie. Schreie voller Verzweiflung und Panik, wie Kiany sie nie zuvor gehört hatte. Sie hob die Hände an die Ohren, um die Schreie auszusperren -vergeblich. Statt leiser zu werden, mischte sich in die Schreie ein bösartiges Fauchen und Knurren, das nur von großen Raubtieren stammen konnte.
»Naemy!«, rief Kiany hilflos, die Hände noch immer auf die Ohren gepresst. Naemy sagte etwas, aber die Worte der Nebelelfe erreichten Kiany nicht. Ein mächtiger Strudel toste durch ihre Gedanken, dessen dröhnendes Rauschen sogar die entsetzlichen Schreie übertönte. Rücksichtslos riss er Kianys Bewusstsein mit sich, wirbelte es durch ein grelles Licht und entließ es schließlich in einen schrecklichen Albtraum.
Kiany öffnete die Augen und blickte sich um. Sie flog noch immer, doch es waren nicht mehr die Lichter eines Dorfes, die unter ihr vorbeizogen. Vielmehr erblickte sie die schwelenden Überreste eines gewaltigen Feuers. Das dämonische rote Licht der Glut erhellte ein grausiges Bild, das nur einem furchtbaren Albtraum entsprungen sein konnte. Hunderte von Toten lagen in weitem Umkreis um das Feuer am Boden. Männer, Frauen und Kinder Elfen! Alle waren in festliche Gewänder gekleidet und trugen keine Waffen. Viele von ihnen waren entsetzlich zugerichtet und ihr Blut färbte den hellen Boden um das erlöschende Feuer rot. Kiany konnte den grausigen Anblick nicht ertragen. Zum erstem Mal, seit die Visionen sie heimsuchten, wehrte sie sich dagegen und versuchte aus dem schrecklichen Traum zu erwachen. Doch der unwirkliche Riesenalp, auf dessen Rücken sie über dem Schlachtfeld kreiste, drehte immer weiter seine Runden und ließ nicht zu, dass sie sich dem abscheulichen Anblick entzog.
Und es kam noch schlimmer.
Plötzlich war das warme Gefieder unter ihr verschwunden und sie stürzte wie ein Stein zu Boden. Mit rasender Geschwindigkeit sah Kiany die Toten und das Feuer auf sich zukommen. Immer schneller näherte sie sich der Stätte des Todes. Sie wollte die Augen schließen, doch selbst diese Fluchtmöglichkeit blieb ihr verwehrt. Erbarmungslos wurde sie dazu gezwungen, das Entsetzliche aus nächster Nähe zu beobachten. Sie öffnete den Mund zu einem Schrei, doch kein Laut kam über ihre Lippen. Die Erde war jetzt ganz nahe. Gleich würde sie aufschlagen. Gleich! Eine seltsame Lähmung überfiel Kiany und sie wurde ganz ruhig. Im Angesicht des Todes nahm sie alles fast überdeutlich wahr. Das Letzte, was sie sah, bevor sich ihr Blick endgültig eindunkelte, war eine riesige getigerte Raubkatze,
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