Die Saga von Thale 03 - Die Hüterin des Elfenfeuers
Kuriervögel.
Letivahr verspürte das drängende Gefühl, Chiriga etwas Tröstliches zu sagen. Doch er schwieg, da er nicht wusste, was er auf die kummervollen Gedanken erwidern sollte. Wie die anderen trauerte auch er um den jungen Riesenalp, aber das Leid der Mutter mit ansehen zu müssen, ohne helfen zu können, war mehr, als er ertragen konnte.
»Wenn meine Zeit kommt, wollte er mit mir nach Tun-Amrad fliegen«, hörte er sie leise sagen. »Er wollte mich begleiten und die letzten Sonnenläufe an meiner Seite weilen. Doch jetzt. . . jetzt wird er das Tal der Ahnen niemals erblicken . .. und ich ... ich werde allein . . . « Chiriga brach ab und verstummte. Letivahr suchte noch immer verzweifelt nach Worten, die sie hätten trösten können, doch er fand keine. So stand er nur stumm neben ihr im Regen und fühlte sich so hilflos wie noch nie, während er weiter Chirigas gramvollen Gedanken lauschte.
Gegen Mitternacht ließen Wind und Regen endlich nach, und das Gewitter, das von der Ebene herangezogen war, wanderte weiter ostwärts. Langsam schoben sich die tief hängenden Wolken über die flachen Ausläufer der Valdor-Berge und ließen das Grasland durchweicht und schlammig zurück. Das Unwetter selbst hatte ein großartiges Schauspiel geboten, doch den sechs Männern, die in der engen Jagdhütte Zuflucht vor dem Wüten des Sturms gesucht hatten, hatte der Sinn nicht danach gestanden, die hoch aufgetürmten und von bizarren Blitzen erleuchteten Wolken zu beobachten. Die Trauer um den toten Riesenalp und die Enttäuschung, dessen Mörder noch nicht gefunden zu haben, quälte die Kuriere, und obwohl Artair dem Druidenrat in Nimrod mittels Gedankensprache einen kurzen Bericht der Lage erstattet hatte, plagte sie alle das Gefühl, versagt zu haben.
Selbst als das Unwetter nachließ, blieb die Stimmung in der Hütte gedrückt, und nur wenige der Männer fielen in einen dürftigen Schlaf.
Glamouron stand allein an dem einzigen, spinnwebverhangenen Fenster der Hütte und blickte geistesabwesend in die Dunkelheit hinaus. Der Elf war zu aufgewühlt, um zu schlafen. Düstere Gedanken plagten ihn, die er vor den anderen Kurieren und auch vor dem Druiden sorgsam verborgen hielt, weil er keinerlei Beweise für seine Befürchtungen hatte. Was ihn beunruhigte, waren jene Worte, die er als junger Elf aus dem Munde Mahin-Gaws, einer alten und sehr weisen Elfenpriesterin aus Numark, vernommen hatte. Damals, vor vielen hundert Sommern, hatte er zum Zeichen des Erwachsenseins das erste Mal allein durch die Zwischenwelt gehen sollen - eine Prüfung, die alle heranwachsenden Elfen ablegen mussten und die jedes Mal mit einer feierlichen Zeremonie begangen wurde. Alle Freunde und Verwandten waren damals von weit her gekommen, um Glamouron nach dem bestandenen Wagnis im Kreis der Erwachsenen zu begrüßen. Und wie es der Brauch verlangte, war damals auch Mahin-Gaw zugegen gewesen, um Glamouron zum Zeichen der Anerkennung den mit bunten Quarzen besetzten Zeremoniendolch zu überreichen, den nur erwachsene Nebelelfen tragen durften.
Als er von der Reise durch die Zwischenwelt zurückgekehrt war, hatte sie ihm lächelnd das funkelnde Kleinod überreicht. Doch als er es ihr aus den Händen hatte nehmen wollen und dabei zufällig ihre Hand berührt hatte, war sie plötzlich erstarrt. Mit einer Kraft, die er ihr niemals zugetraut hätte, hatte sie seine Hand festgehalten und ihn mit seltsam entrücktem Blick angeschaut. »Tiro i dalaf - beobachte den Boden«, hatte sie ihm mahnend zugeraunt, und er hatte gespürt, wie ihre Hände gezittert hatten. »Nz cen mom-pilin ne Numark - ich sehe schwarze Pfeile in Numark.« Ihr Atem war schneller geworden, und ihre Finger hatten sich fest um Glamourons Hand gekrallt. »Lasto beth nin: Noro lim! Andelu i ven - höre meine Worte: Reite schnell! Der Weg ist gefährlich.«
Dann hatte sie ihn losgelassen und war erschöpft in die Arme zweier hinzugeeilter Elfen gesunken. Die Ohnmacht der alten Priesterin hatte nur wenige Augenblicke gedauert, und danach hatte sie sich nicht mehr an die Worte erinnern können. Sie hatte weder gewusst, welche Bilder ihr erschienen waren, noch was die Worte hatten bedeuten sollen, und Glamouron war mit den drängenden Fragen allein geblieben. Drei Sommer später war Mahin-Gaw in die Ewigen Gärten des Lebens gegangen, und Lya-Numi hatte ihren Platz eingenommen. Sie hatte sich nach Kräften bemüht, ihm zu helfen, doch auch sie hatte die Bedeutung der Worte nicht
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