Die Samenhändlerin (German Edition)
ihm vorging: die Mühsal so vieler Monate – dahin in einer Nacht! Es ging um mehr als nur um das Geld. Für die Brüder war das Ganze eine große persönliche Niederlage. Statt stolz die Gewinne von der Russlandreise auf den Tisch werfen zu können, waren sie wie Bettler in Gönningen angekommen …
Umso mehr freute sich Hannah, ihn nun in alter Manier große Reden schwingen zu hören. Und die Gönninger taten ihm den Gefallen und lauschten mit offenen Mündern und großen Augen.
Insgeheim hatte sie ein wenig Angst vor der Reaktion der Leute im Dorf gehabt. Schadenfreude – ob stille oder offen ausgesprochene – wäre das Letzte gewesen, was Helmut und Valentin brauchten. Und dass einige Gönninger den Kerners ihren Erfolg neideten, hatte Hannah inzwischen schonmitbekommen. Wie Lothar Gmeiner, ein Samenhändler in Helmuts Alter, der selbst noch nie weiter als bis Bayern gekommen war. Ihm warf Hannah jetzt einen giftigen Blick zu – er war der Einzige gewesen, der eine spöttische Bemerkung hatte fallen lassen. Zum Glück hatte Helmut sie nicht gehört, weil just in diesem Moment Emma mit einem frischen Krug Bier an den Tisch getreten war. Ansonsten hatten die Brüder nur verständnisvolles Kopfnicken geerntet, ein Schulterklopfen hier, eine aufmunternde Bemerkung da. Aus den Erzählungen ringsum konnte Hannah heraushören, dass solche Überfälle auch schon anderen Gönningern widerfahren waren. Ein trauriger Trost …
Wenn ich ihm nur irgendwie helfen könnte, ging es ihr nicht zum ersten Mal durch den Kopf. Ihm die Last von den Schultern nehmen! Sie wusste, dass die Kerners jeden Herbst für mehr als dreitausend Gulden Sämereien bezogen. Einen Teil davon – Warenportionen für zwei- oder dreihundert Gulden – verkauften sie gleich wieder an kleinere Händler weiter. Aber die Kerners waren es, die das Geld dafür gleich bei den Samenzüchtern auf den Tisch legen mussten. Die Gewinne aus der Russlandreise waren für diese Einkäufe mit einkalkuliert worden, nun musste die Familie erspartes Geld dafür verwenden. Das würde sie zwar nicht an den Rand des Ruins bringen, aber ärgerlich war es schon.
Es ging Helmut und Valentin jedoch nicht nur um das verlorene Geld – Hannah spürte, dass die verlorene Ehre, oder wie immer sie es nennen sollte, die beiden Männer viel mehr bedrückte.
Emma trat mit einer großen Schale Kekse an den Tisch. »Ein feiner Stoff ist das«, flüsterte sie Hannah ins Ohr, während sie ihre Hand über Hannahs Rücken gleiten ließ. Erst da merkte Hannah, dass sie völlig angespannt war. Sie schüttelte sich wie ein nasser Hund.
»Findest du?«, murmelte Hannah. »Es stammt aus Odessa, Leonards Frau hat ihm beim Aussuchen geholfen. Er dachte, Rot würde gut zu meinem schwarzen Haar passen. Seraphine hat dasselbe Kleid in Rosa bekommen. Rosa – brrr!«
Emmas Blick wanderte hinüber zu Seraphine, die, eingepfercht zwischen Valentin und ihrer Schwiegermutter, einen mürrischen Eindruck machte.
»Dafür sitzt ihr Kleid weitaus besser. Sei mir nicht böse, Kindchen, aber irgendwie …« Stirnrunzelnd zupfte Emma zuerst an einer Stofftasche unterhalb Hannahs rechter Brust, dann am Übergang zwischen Ober- und Rockteil.
»Vielleicht ist das in Russland Mode, aber hier bei uns würde ich sagen, es ist einfach eine schlechte Handarbeit!«
Sofort verdunkelte sich Hannahs Blick. »Das ist Seraphines Werk! Das Kleid war zu eng. Seit Floras Geburt … Ich weiß auch nicht, ich habe immer so viel Hunger, manchmal könnte ich von früh bis spät essen!« Unglücklich schaute Hannah an sich hinab. Wo früher ihre schlanke Taille saß, hatten sich im letzten Jahr kleine Speckröllchen gebildet. Ihre Schenkel rieben aneinander, selbst jetzt im Sitzen. Auch ihre Hüften waren noch ausladender geworden. Sogar Helmut war aufgefallen, dass sie an Gewicht zugelegt hatte. Er hatte eine Bemerkung gemacht in der Art, dass ihr wohl das süße Nichtstun bekommen würde. Nichtstun! Wo sie von früh bis spät zu tun hatte!
»Sera hat das Kleid weiter gemacht. Das wäre gar kein Problem, sagte sie. Du weißt ja, nähen ist nicht meine Stärke … Sieht es wirklich so grausig aus?« Auf einmal wusste Hannah nicht mehr, wie sie sitzen sollte. Sie kam sich fett und unförmig vor. Unglücklich schob sie die Schultern nach vorn, um ihre Körperfülle zu verstecken.
Emma warf einen missbilligenden Blick in Seraphines Richtung. »Bring das Kleid morgen zu mir, ich schau, ob sich noch was retten
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