Die Samenhändlerin (German Edition)
lässt.«
»Und ist euch jetzt die Lust aufs Reisen vergangen? Oder steht womöglich als Nächstes Amerika auf dem Plan?«, fragte Lothar Gmeiner, und der spöttische Unterton in seiner Stimme war nicht zu überhören.
Das schlecht sitzende Kleid war von einem Moment auf den anderen vergessen. Abrupt wandte sich Hannah wieder der Tischrunde zu. Dieser Lothar! Wie konnte er vom Abreisen faseln, wo die Männer gerade erst nach Hause gekommen waren? Unwillkürlich rückte sie näher an Helmut heran.
Der tätschelte ihre Hand. »Meine Hannah hat unsere Äcker und die Wiesen zwar gut vorbereitet, und auch sonst ist alles gut in Schuss, aber manche Arbeiten sind eben Männersache! Und dann … müssen wir einfach sehen, wie’s weitergeht. Irgendwie müssen wir das verlorene Geld ja wieder hereinholen.« Er sank in sich zusammen.
Einen Moment lang sagte niemand etwas.
Dann ließ Gottlieb seine flache Hand auf den Tisch fallen. »Euer alter Vater ist ja auch noch da! Wenn’s sein muss, ziehe ich im Herbst nochmal los. Ehrlich gesagt, das Reisen fehlt mir. Wieder einmal den Duft fremder Apfelbäume in der Nase haben, die Füße in einen anderen Bach baumeln lassen. Leute treffen, die etwas zu erzählen haben … Und dann das Geschäft, o ja, das Geschäft!« Er schluckte so heftig, dass sein Adamsapfel hüpfte. »Einige meiner Kunden haben mir sogar schon geschrieben. Sie wollen wissen, wann ihr Samenhändler wiederkommt … Eigentlich habe ich ja gedacht, ihr beide würdet dieses Jahr auch ins Elsass reisen.« Er warf seinen Söhnen einen tadelnden Blick zu. »Aber es wird wohl das Beste sein, wenn ihr euch völlig auf Böhmen konzentriert. Am Ende verzettelt ihr euch, und das spült auch kein Geld in leere Kassen!« Er seufzte schwer. »Wenn nur nicht ausgerechnet dieses Jahr so viel im Rathaus zu tun wäre …«
»Macht ihr denn schon Fortschritte, was die Poststation fürGönningen angeht?«, wollte Matthias wissen. »Herrgott, die in Tübingen müssen doch endlich einsehen, dass wir dringend eine eigene Post brauchen! Wenn nicht wir, wer dann?«
Gottlieb nickte. »So ist es. Aber solche Dinge brauchen Zeit. Es geht darum, Fürsprecher zu gewinnen, und da …« Er begann einen langen Monolog über die vielen Schreiben, die er schon nach Tübingen geschickt hatte. Nun plante er eine Fahrt nach Stuttgart in der Hoffnung, dort mehr ausrichten zu können.
Hannah schlug die Beine übereinander. Langsam wurden ihr die Reden zu viel. Draußen schien die Sonne, von den letzten noch in Blüte stehenden Bäumen schneite es weiße Flocken, müder Fliederduft wehte durch die offenen Fenster herein. Wie gern wäre sie mit Helmut ein wenig spazieren gegangen! Vielleicht hätte das seine trüben Gedanken vertrieben, und ihre gleich mit! Hinaus aus dem Dorf, über die Felder und Wiesen, dorthin, wo der Himmel weit war und von keinen Dächern begrenzt wurde. Hannah seufzte sehnsüchtig, und im selben Moment ging ihr nicht ohne Spott durch den Kopf: Du denkst schon wie ein Samenhändler! Den zieht die Sehnsucht nach der Weite auch immer wieder hinaus, trotz aller Gefahren.
Und dann kam ihr ein Gedanke, der so verwegen war, so beängstigend, so neu …
Was wäre denn, wenn ich beim Samenhandel mitmachen würde?
So könnte ich ihm helfen!
Was ist mit Flora, schoss es ihr im selben Moment durch den Kopf. Ich kann doch mein Kind nicht allein lassen! Du liebe Güte, wie soll ich das überstehen?
Und mit wem sollte sie losziehen? Allein würde sie sich so etwas nie und nimmer zutrauen, davon abgesehen, wäre es auch viel zu gefährlich. Vielleicht konnte sie Gottlieb überreden? Nein, der hatte ja seine »wichtigen« Aufgaben im Rathauszu erledigen. Wilhelmine? Himmel, hilf! Mit ihrer Schwiegermutter auf der Reise zu sein konnte sich Hannah nicht vorstellen.
Bliebe nur noch … Seraphine!
Hannah schaute an ihrem schlecht sitzenden Kleid hinab. Inzwischen war sie davon überzeugt, dass Seraphine es absichtlich verschnitten hatte. Und mit solch einem gemeinen Menschen sollte sie sich auf die Reise machen? Nein, das war einfach zu viel verlangt!
Es musste ihr ein anderer Weg einfallen, Helmut irgendwie zu unterstützen.
Andererseits … in guten wie in schlechten Zeiten – das hatten sie sich doch geschworen, oder? Wenn sie ihre Abneigung gegen Seraphine überwinden und mit ihr auf die Reise gehen würde, dann wüsste Helmut, dass er nicht allein war – und das würde ihm gut tun!
Bevor die Courage sie verließ,
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