Die Samenhändlerin (German Edition)
angefeuert von den umstehenden Leuten, nahm er einen sechsten hinzu. Die glitzernde Bemalung, mit der die Bälle verziert waren, reflektierte im untergehenden Sonnenlicht. Von einem der gleißenden Strahlen wurde der Jongleur nun selbst geblendet, und vor den Augen seiner Zuschauer entglitten ihm die Bälle. Einer purzelte Seraphine direkt vor die Füße.
Gedankenverloren hob sie ihn auf und reichte ihn an den Mann zurück, der sich mit einer übertriebenen Verbeugung bedankte.
Seraphine rieb sich die Augen. Sie war müde. Müde vom Tag und müde vom Leben.
War sie nicht auch eine Jongleurin? Mit zu vielen Bällen in der Hand. Und entglitt ihr nicht auch ein Ball nach dem andern?
Nach den vielen Stunden, die sie mit ihrem Zeichenblock und Piets Tulpenbuch verbracht hatte, hätte sie gut und gern auf den Besuch des Jahrmarktes verzichten können. Die anderen drei jedoch hatten darauf bestanden. Hand in Hand waren Helmut und Hannah von ihrem Ausflug ans Meer zurückgekommen, hatten kichernd ihre Dutzende von Mückenstichen gezählt. Auch Valentin war bester Laune gewesen – er war es auch, der den Besuch des Jahrmarktes vorgeschlagen hatte.
Seraphine warf ihm einen gereizten Blick zu. Hatte nichts im Kopf als sein eigenes Vergnügen!
»Kommt, lasst uns weitergehen! Dahinten soll ein Mann mit Tanzbären sein!«, rief Hannah neben ihr. »Und schaut doch nur, die Gänse da drüben. Wahrscheinlich wird ein Wettrennen veranstaltet!« Sie lachte. »Na, wollen wir auf eine von ihnen setzen?«
»Warum probieren wir nicht zuerst unser Glück an der Wurfbude aus? Dort habe ich es wenigstens selbst in der Hand«, sagte Helmut, und Valentin nickte bestätigend. Ohne auf ihre Zustimmung zu warten, zog er Seraphine an der Hand hinter sich her. Im nächsten Moment bekam sie einen Stoß ins Kreuz, und Bier schwappte auf ihren Arm.
»Pass doch auf, du Trottel!«, schrie sie den Trunkenbold an, aber der lallte nur etwas Unverständliches zurück. Angewidert wandte sich Seraphine ab.
Es war ein warmer Abend, und der Jahrmarkt war gut besucht: Männer, die mit Bierhumpen in der Hand vor dem »Hau den Lukas« standen und einen der ihren anfeuerten. Eltern, deren Augen mit denen ihrer Kinder um die Wette strahlten. Junge Mädchen, die sich weniger für die Gaukler interessierten als vielmehr für die männlichen Jahrmarktbesucher. Kichernd schubsten sie immer wieder eine aus ihrem Kreis in Richtung eines besonders feschen Burschen.
Während Hannah die Männer anfeuerte, mit ihren Bällen besser auf die Pappfiguren zu zielen, wanderte Seraphines Blick zurück zu dem Jongleur. Inzwischen hatten sich seine Zuschauer anderen Attraktionen zugewandt, verlassen und mit einem bekümmerten Blick drehte er einen einzelnen Ball in seiner Hand.
Was, wenn es mir auch so ergeht!, ging es Seraphine durch den Sinn. Was, wenn ihr ganzes Taktieren, Jonglieren, all ihre Bemühungen fruchtlos blieben? Sie blinzelte heftig und fuhrsich mit der Zunge über die trockenen Lippen. In ihren Ohren dröhnte es, nur noch wie durch einen Nebelschleier nahm sie die Brüder wahr, die mit weit ausholenden Würfen und viel Gejohle versuchten, sich gegenseitig zu übertrumpfen.
Gleich fall ich um! Seraphines rechte Hand tastete nach etwas, woran sie sich festhalten konnte.
Was, wenn alles vergeblich wäre? »Du kannst dir das Schicksal nicht gefügig machen«, hatte Evelyn zu ihr gesagt. Was, wenn sie Recht behielte?
Es war das erste Mal, dass Seraphine es sich erlaubte, länger bei diesem Gedanken zu verweilen.
Es war allerdings nicht so, dass sie ihn jetzt zum ersten Mal wahrnahm. Schon lange krabbelte er wie ein lästiges Insekt durch ihren Kopf. Seit sie nach Holland aufgebrochen waren, brummte und summte es in ihrem Schädel wie in einem Bienenstock! Ach, wenn es ihr nur gelänge, den Gedanken einzufangen oder gar totzuschlagen! An manchen Tagen war das Summen stärker, und nur wenn sie sich kräftig anstrengte, gelang es ihr, es zu verbannen. Sie musste nicht hören, was sie nicht hören wollte. Sie musste nicht denken, was sie nicht denken wollte. Doch an anderen Tagen half selbst die größte Kraftanstrengung kaum.
Heute war solch ein Tag. Bis sie bei dem Tulpenzüchter angekommen waren, hatte sie sich zusammenreißen können. Doch dann hatte ihre Kraft nicht mehr ausgereicht, weiter so zu tun, als ob nichts wäre. Sie wusste, es war ein Fehler gewesen, Helmut und Hannah ziehen zu lassen, aber sie hatte einfach nicht mehr mit anschauen können, dass
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