Die Samenhändlerin (German Edition)
gehörte. Noch nie hatte sie sich so einsam gefühlt wie in diesem Moment. Wenn wenigstens ihre Mutter bei ihr gewesen wäre! Tränen brannten unter ihren Lidern, und sie blinzelte heftig – hier vor allen loszuheulen war das Letzte, was sie wollte. Ach, wäre sie doch bloß in ihrerKammer geblieben! Aber auch da hatte sich die Einsamkeit wie Frost auf ihre Haut gelegt …
»Kopf hoch, auch wenn der Hals dreckig ist«, hörte sie plötzlich die Stimme ihres Vaters. Geräuschvoll zog Hannah die Nase hoch, was ihr gleich wieder ein paar schräge Blicke von links und rechts einbrachte. Sie schluckte. Vater hatte Recht! Vom Heulen hatte sich noch nie etwas zum Besseren gewandelt. Sie richtete ihren Blick auf den Altar.
Es war eine evangelische Kirche – das erstaunte Hannah und freute sie zugleich. Sie selbst war auch evangelisch. In Nürnberg war dies nicht ungewöhnlich, aber auf ihrer Reise durch Württemberg war sie durch etliche katholische Gegenden gekommen. Gönningen sei nicht das einzige evangelische Dorf in der Gegend, hatte Emma ihr erklärt, kurz bevor sie die Kirche betraten. Seit der Reformation gäbe es viele evangelische Städte und Gemeinden.
Vom Gottesdienst bekam Hannah kaum etwas mit. Normalerweise ließ sie sich von der feierlichen Stimmung schnell anstecken, lauschte der Weihnachtsgeschichte jedes Jahr, als höre sie sie zum ersten Mal, doch heute war sie viel zu abgelenkt, um sich auf die Worte des Pfarrers konzentrieren zu können. Unter niedergeschlagenen Lidern wanderte ihr Blick durch die Reihen, bis sie endlich ganz vorn Helmuts wuscheligen Schopf entdeckte. Neben ihm saß Valentin, daneben ein älterer Herr, bestimmt der Vater.
Der Gottesdienst dauerte nicht lange, nach einer guten Stunde war alles vorbei. Trotzdem kam es Hannah wie eine Ewigkeit vor. Doch als sich die Ersten von ihren Plätzen erhoben, als Mäntel angezogen und Gesangbücher in Handtaschen verstaut wurden, wünschte sie sich beklommen, der Pfarrer würde noch ein weiteres Lied anstimmen.
Hannah drängte sich vor allen anderen durch die Tür nach draußen und wartete gleich rechts auf der Treppe. Sie zwangsich, jedem, der an ihr vorbeiging, freundlich zuzunicken. Das Getuschel hinter ihrem Rücken, die neugierigen Blicke versuchte sie zu ignorieren. Sollten sie sich Helmut Kerners zukünftige Frau ruhig genau anschauen! Auf den Zehenspitzen auf und ab wippend, spähte sie durch die Tür nach drinnen. Lange konnte es nicht mehr dauern …
Da! Der alte Herr Kerner. Und dahinter …
»Ja Mädle, was stehst du hier in der Kälte herum? Warum bist nicht schon nach Hause gelaufen? Ich hab dir doch extra den Hausschlüssel gegeben«, hörte sie Emma Steiner auf einmal neben sich.
Jemand zupfte an ihrem Ärmel und sagte: »Komm schnell heim, es gibt etwas Feines zu essen!«
Hannah schüttelte Käthe wie eine lästige Fliege ab, zwang sich jedoch zu einem Lächeln. »Ich komme gleich nach!« Es hätte nicht viel gefehlt, und sie hätte die beiden mit den Händen weggetrieben. Gerade hatte sie Helmut erspäht, gleich würde er bei ihr sein.
Ein letztes Mal durchatmen, dann machte sie einen Satz mitten auf den Weg.
»Helmut! Wie schön, dich zu sehen!« Ihre Stimme zitterte nur ein wenig. Sie lächelte erst Helmut, dann seinen Bruder, dann die Eltern an, die etwas verwirrt zurücknickten. Hinter ihnen tauchte ein Mädchen mit blondem Zopf auf. Sie war so überirdisch schön, dass es Hannah für einen Moment den Atem verschlug. Seraphine!
Helmut schaute sich um, als wäre der Leibhaftige hinter ihm her. Ein Krächzen war das Einzige, was über seine Lippen kam. Er stieß Valentin mit dem Ellenbogen an, doch auch dieser tat nichts anderes, als Hannah fassungslos anzustarren.
Hannahs Lächeln gefror. Er hatte also noch immer nicht mit seiner Familie, geschweige denn mit seiner Verlobten gesprochen!
»Helmut«, hob Hannah erneut an, »willst du mich nicht deiner Familie vorstellen?«
»Das halte ich für eine gute Idee!«, bemerkte der alte Kerner stirnrunzelnd. Ungeduldig trat er von einem Bein aufs andere. Ihm war nicht entgangen, dass sich im weiteren Umfeld eine Traube von Menschen gebildet hatte. Scheinbar war es plötzlich nicht mehr so wichtig, rasch zum Festtagsbraten nach Hause zu kommen. Viel interessanter war das Schauspiel um die Kerners und die schöne Unbekannte, die sich schon seit Tagen im Dorf aufhielt.
»Ja, äh, das ist Hannah, äh, Brettschneider. Sie –« Hilfesuchend blickte sich Helmut zu
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