Die Samenhändlerin (German Edition)
aber es ersparte eine ganze Reise. Hannah hatte schon vom Jakobihandel gehört, doch war ihr bis zu diesem Zeitpunkt nicht klar gewesen, dass die Sommerreise im Kalender der Gönninger ein genauso festerBestandteil war wie die Handelsreisen im Herbst und Winter. Noch eine Reise? Noch eine Trennung? Sie brach erneut in Tränen aus. Erst als ihr klar wurde, dass dieser Krug zumindest in diesem Jahr an ihr vorüberging, verwandelte sich ihr Weinen in Freudenschreie.
In den darauf folgenden Wochen verbrachte sie so viel Zeit wie möglich mit Helmut, besuchte mit ihm Reutlingen, fuhr ein anderes Mal mit ihm nach Tübingen. Ganz gleich, ob sie die Packstube auf Vordermann brachten oder ob Feldarbeit anstand, sie arbeiteten gut Hand in Hand, hatten einen ähnlichen Rhythmus und ergänzten sich, statt sich gegenseitig zu behindern. Bei aufwändigeren Arbeiten, beispielsweise im September bei der Obsternte, waren natürlich auch Valentin und Seraphine mit von der Partie, an manchen Tagen sogar Wilhelmine und Tante Finchen. Doch bei keinem anderen Paar füllten sich die Körbe so schnell und unter so viel Lachen mit Äpfeln oder Mostbirnen wie bei Helmut und Hannah.
Auch Flora war immer dabei. Entweder wurde sie von Hannah in einem Tuch vor der Brust getragen, oder sie kam in den hochrädrigen Karren, in dem laut Wilhelmine schon ihre drei Kinder gelegen hatten.
Wenn es keine Arbeit auf den Feldern gab, saß Helmut viele Stunden lang im Büro seines Vaters oder in der Packstube. Hannah staunte über die unzähligen Briefe, die zwischen Samenzüchtern, Gärtnern und dem Hause Kerner hin- und hergingen. Immer wieder schrieb Helmut seine Lieferanten wegen neuer, ungewöhnlicher Blumensorten an oder wollte etwas über die Verwendbarkeit der Sorten in fremdem Klima erfahren. Liefermengen und -zeiten wurden verhandelt und natürlich Preise. Daneben gab es Korrespondenz mit dem Zollverein in Tübingen, Karten mit Eisenbahnverbindungen befanden sich ebenso bei den Unterlagen wie Informationen über die Donauschifffahrt. Dass ein solcher Aufwand betrieben werdenmusste, bevor ein Samenhändler mit seinem Zwerchsack losziehen konnte, hätte Hannah nie vermutet. Helmut erklärte ihr, ohne dies jedoch weiter auszuführen, dass die Lieferanten in der Regel ziemlich genau wüssten, was sie wann an die Kerners zu liefern hatten, dass dieses Jahr die Sache jedoch ein wenig komplizierter wäre.
Als es schließlich auf den Herbst zuging, schienen die Männer von Tag zu Tag nervöser zu werden. Manchmal genügte ein falsches Wort zum falschen Zeitpunkt, und entweder Valentin oder Helmut gingen in die Luft. Hannah kam es bald so vor, als lebten die beiden nur noch für den Moment, in dem sie endlich wieder ihr Bündel packen und losziehen konnten. Sie hätte gern gewusst, ob dies in anderen Haushalten auch der Fall war, doch so gut kannte sie die Gönninger noch nicht. Die Tatsache, dass Helmut sie und Flora so leichten Herzens würde verlassen können, stimmte Hannah traurig und nachdenklich. Und umso mehr galt es, bis dahin jede gemeinsame Minute zu genießen.
Sie hätte sich gern öfter zu Helmut gesetzt, wenn dieser seine Schreibarbeiten erledigte. Nicht, weil das Geschäft sie so brennend interessierte – sie wäre einfach gern noch länger mit ihrem Mann zusammen gewesen. Doch meistens saß schon Seraphine auf dem zweiten Stuhl im Büro, füllte irgendwelche Listen aus, sortierte etwas in dicke Aktenmappen und machte dabei ein wichtiges Gesicht. Hannah hatte gar nicht mitbekommen, wann Seraphine angefangen hatte, Schreibarbeiten für die Männer zu erledigen. Vermutlich in den Wochen, in denen sie so viel Zeit mit ihrer Mutter verbracht hatte. Es war nicht so, dass Helmut und Seraphine ihr das Gefühl gaben, unerwünscht zu sein. Seraphine bot ihr sogar mehr als einmal an, sie in das komplizierte Bestellwesen einzuführen. Doch Hannah lehnte dankend ab und lief aus dem Zimmer, als hätte sie unzählige andere, spannende Dinge zu erledigen. Wenn sie diebeiden so Seite an Seite sah – Seraphines silberblondes Haar dicht an Helmuts Wuschelkopf –, konnte sie ihre Eifersucht kaum zügeln. Gleichzeitig grenzte es für sie an ein Wunder, dass sie diesen Mann, den sie aus reiner Verzweiflung geheiratet hatte, so lieben gelernt hatte.
Es gab allerdings auch Tage, an denen ihr Herz groß und weit war und sie sich sagen konnte: Gönne Seraphine doch den Spaß! Was tut sie schon, außer Helmut bei der Büroarbeit zu helfen?
Dieses Auf und
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