Die Samenhändlerin (German Edition)
Ab der Gefühle vermochte sich Hannah selbst nicht zu erklären. Seraphine war und blieb ihr unheimlich, und dass sie Helmuts einstige Verlobte war, machte die Sache nicht einfacher.
Hin und wieder wanderten Helmut und Hannah auf den Rossberg, manchmal noch vor dem Tagwerk früh am Morgen, an anderen Tagen erst nach Einbruch der Dämmerung. Diese abendlichen Wanderungen waren Hannah am liebsten: Wenn hinter jedem Grashalm eine Grille ihr Lied anstimmte, wenn der Boden noch von der Sonne erwärmt war, wenn hinter so manchem Baum eine Elfe oder ein kleiner Troll vorbeizuhuschen schien, fühlte sie sich der Natur so verbunden wie zu keiner anderen Zeit. Auf dem Berg, wo sie dem Himmel viel näher waren als unten im Dorf, waren ihre Gespräche intimer und inniger. Hier konnte Helmut davon sprechen, wie sehr es ihn ärgerte, seinen Vater immer und immer wieder mühselig von einer neuen Idee überzeugen zu müssen. Hier droben bekam seine Stimme einen seltsamen Klang, wenn er von Aufbrüchen zu neuen Ufern erzählte, nach denen er sich so sehnte. Nicht immer verstand Hannah, wovon er sprach, und manchmal machten ihr seine Reden auch ein wenig Angst. Dann nahm sie seine Hand und hörte schweigend zu.
Auf dem Rossberg konnte Hannah auch von ihren seltsamen Beobachtungen erzählen, die Seraphine betrafen: dass sie die Schwägerin in Helmuts und ihrem Schlafzimmer angetroffenhatte und dass Seraphine auf die Frage, was sie dort zu suchen habe, antwortete, sie habe sich verlaufen. Verlaufen! Im eigenen Haus! Hannah vertraute Helmut an, dass es ihr unwohl dabei war, Flora in Seraphines Armen zu sehen, dass sie Angst habe, die Schwägerin könne dem Kind etwas Böses tun. Auch wenn Helmut Hannahs Befürchtungen als unsinnig abtat und die Schwägerin sogar noch verteidigte, war Hannah danach doch immer etwas leichter ums Herz.
Von einem Tag auf den anderen hatte sich der Sommer verabschiedet. Die Spinnweben, die am Vortag zwischen den Hecken noch silbern in der Sonne geglänzt hatten, hingen nun regenschwer herab, die Vögel hörten auf zu singen, und der Nebel zog in das Tal rund um Gönningen. Die Bäume, befreit von der schweren Last der Äpfel und Birnen, schienen sich wieder leichter dem Himmel entgegenzustrecken. Manche ließen schon jetzt einen Teil ihrer Blätter fallen.
Abschied und Aufbruch kündigten sich an, und eine eigentümliche Stimmung machte sich breit.
Seraphine drückte das Kopfkissen an ihr Gesicht und atmete tief ein. Es war noch ein bisschen warm. Wie gut es roch! Nach Mann, nach Erde, so warm, als wären die letzten Sonnenstrahlen des Sommers darin eingefangen.
Ihre Sonne, so warm …
Ach, warum konnte sie sich nicht immer an ihr wärmen?
Mit einem Seufzen ließ Seraphine das Kissen sinken. Ihre Augen wanderten durch den Raum, blieben an dem bunten Flickenteppich hängen, der vor dem Bett lag. Sie musste an den Teppich denken, den sie gewebt hatte. Die braune und weiße Wolle hatte sie dafür von Wilhelmine bekommen. Immer wieder hatte sie die Fäden gewechselt, bis sie ineinander liefen wie Farbe auf einem nassen Papier. Wie viel feiner war ihreHandarbeit! Wie viel geschmackvoller als dieses bunte, hässliche Ding!
Wäre Helmut ihr Mann gewesen, hätte sie ihm Schönheit geschenkt. Aber Helmut war nicht ihr Mann. Und dieses Zimmer war nicht ihr Zimmer, sondern das von Helmut und Hannah.
Warum sie dennoch immer wieder hierher kam, hätte sie nicht erklären können. Einmal war sie ausgerechnet von Hannah erwischt worden.
Mit den Fingerspitzen fuhr sie über die Kleidungsstücke, die auf einem Stuhl lagen. Helmuts Sachen – so lieblos hingeworfen. Sie konnte nicht dem Impuls widerstehen, sie zusammenzufalten und ordentlich aufeinander zu legen. In den Hemden war sein Geruch noch intensiver. Ein Ohr in Richtung Tür gewandt – im oberen Stockwerk war alles ruhig, die anderen saßen längst beim Morgenmahl –, stopfte sie eines der Hemden unter ihre Strickjacke. Sie würde es mitnehmen, unter ihr Kopfkissen legen wie einen Talisman.
»Du bist eine ganz Scheinheilige!«, hatte Valentin sie beschimpft, damals im Garten, als er sie beim Malen des Blumenbuches störte. Dumme Worte, mehr nicht. Nicht wert, darüber nachzudenken. Unwirsch schüttelte Seraphine den Kopf, als wolle sie sich von einem Spinngewebe befreien. Was wusste Valentin von wahrer Liebe? Nichts. Gar nichts.
Trotzdem war sie nach seinem Ausbruch vorsichtig geworden. Sie wusste, dass er jeden ihrer Schritte beäugte, dass sein
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