Die Samenhändlerin (German Edition)
Meer zu machen waren. Aber so ganz hatten die Brüder ihm nicht geglaubt. Gute Geschäfte – was man darunter verstand, war schließlich Ansichtssache. Auch dass er selbst es »als Büchsenmacher« zu bescheidenem Wohlstand gebracht habe, hatte Leonard geschrieben.
Bescheidener Wohlstand?
Dass dies eine große Untertreibung war, bedeutete für die Brüder den ersten Schock des Tages. Am Vorabend waren sie zu müde gewesen, hatten ihre letzten Kräfte benötigt, sich all die Namen und Gesichter zu merken, ohne die Pracht des riesigen Hauses, das die Familie bewohnte, in sich aufnehmen zu können. Doch als sie es zum ersten Mal bei Tageslicht sahen, verschlug es ihnen fast die Sprache: Hoch gelegen, im westlichen Teil der Stadt, mit einem grandiosen Ausblick über die ganze Bucht von Odessa, hatte es mindestens zehn Zimmer und war so prachtvoll ausgestattet wie der Palast eines Zaren – zumindest kam es den Brüdern so vor. Die Fenster reichten vom Fußboden bis fast unter die Decke, und das hereinfallende Sonnenlicht verlieh den Räumen eine Tiefe, die sie noch größer erscheinen ließen. Einen Garten konnte das Haus nicht aufweisen, dafür aber einen riesigen Innenhof, ausgelegt mit feinstem, poliertem Granit. In der Mitte schoss ein großer Springbrunnen Dutzende von Wasserfontänen in die Höhe.
Springbrunnen im Februar? Valentin wollte von Leonard wissen, ob sie nicht hin und wieder einfroren. Er wurde darüber aufgeklärt, dass Odessa zwar unter eisigen Winden litt, dieWinter ansonsten aber recht mild waren und die Temperatur selten unter den Gefrierpunkt sank, vor allem nicht in einer so geschützten Lage wie der seines Hauses.
Milde Winter? Das passte so wenig wie alles andere zu dem Bild, das sich die Brüder aus Württemberg von der russischen Stadt gemacht hatten.
Russland – das hatte in Helmuts und Valentins Augen bisher überwiegend Armut bedeutet. Kleine Holzhäuser, die mit Müh und Not den eisigen russischen Wintern trotzten. Verhärmte Bauern, die aus der einzigen Kuh im Stall den letzten Milchtropfen pressten. Gesichter, in denen sich Schwermut und lebenslange Entbehrungen tief eingegraben hatten. Das waren die Dinge, von denen sich Russlandreisende an den Stammtischen erzählten!
Wer sich bisher auf den Weg ins Zarenreich gemacht hatte, besuchte Verwandte, so wie Valentin und Helmut es taten. Bei diesen Verwandten handelte es sich immer um Württemberger, die während der großen Hungersnot dreißig Jahre zuvor ausgewandert waren, in der Hoffnung, in Russland ein besseres Leben zu finden. Ein Trugschluss, wie sich leider viel zu oft herausstellte. »Dem ersten der Tod, dem zweiten die Not, dem dritten das Brot« – dieser Spruch wurde in Württemberg oft zitiert, wenn die Rede auf die ausgewanderten Familienmitglieder kam. Was bedeutete, dass es mindestens dreier Generationen bedurfte, ehe man im riesigen Zarenreich überhaupt Fuß gefasst hatte. Von Leuten wie Leonard und seiner Frau samt ihrem Reichtum war nie die Rede gewesen …
Als Leonard sie mit stolzgeschwellter Brust durch Odessa führte, ging das Staunen weiter: Die Stadt war ganz anders, als Helmut und Valentin sie sich vorgestellt hatten! Keine Holzhäuser, sondern Prunkbauten aus massivem Stein. Wie hätten die Odessiten Häuser aus Holz bauen sollen, wo es in der ganzen Gegend kaum Holz gab?, beantwortete Leonard die Frageder Brüder mit einer Gegenfrage. Stattdessen gab es Kalkstein in Hülle und Fülle. Was lag da näher, als den abzubauen und für den Hausbau zu verwenden?
In Gönningen sei dies ganz ähnlich, erwiderte Helmut daraufhin ebenfalls mit Stolz. Dort würden viele Häuser aus Tuffstein gebaut, einer wertvollen Gesteinsart, die man nahe dem Dorf abbaute. Dass es zwischen dem großartigen Odessa und der schwäbischen Heimatgemeinde wenigstens eine Ähnlichkeit gab, war für beide Brüder ein beruhigendes Gefühl.
Die Männer spazierten an riesigen, palastähnlichen Geschäftshäusern vorbei, und zu jedem einzelnen wusste Leonard eine Geschichte zu erzählen. Überhaupt schien Leonard fast jeden zu kennen und jeder kannte ihn. Alle paar Meter blieb er stehen, um mit einem elegant gekleideten Herrn ein paar Worte zu wechseln oder um einer feinen Dame die Hand zu küssen. Die Brüder staunten nicht schlecht. Wohin sie auch schauten, sahen sie freundliche Menschen.
Immer wieder überquerten sie breite Straßen, auf denen ein so emsiges Treiben herrschte, dass sie eine Lücke zwischen den vielen Fuhrwerken,
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