Die Samenhändlerin (German Edition)
Dann begann er zu würgen.
»Was ist?«, fragte Valentin, noch immer schläfrig. »Kotzt du schon wieder?«
Helmut wischte sich schwer atmend den Mund ab. »Die Strömung ist auf einmal unheimlich stark! Und schau mal, wie eng der Fluss pl … plötzlich geworden ist! Da – nichts als Felsen!« Beklommen schaute er auf die nackten Felswände, die direkt aus dem Wasser ragten. Im nächsten Moment tat sich unmittelbar vor ihnen eine hohe Felswand auf.
»Du lieber Himmel, wir fahren genau auf den Felsen zu!«
Um sie herum war es dunkel geworden, dämmrig wie in einer Klamm. Keinen Armbreit entfernt ragten steile Felsspitzen aus dem Wasser, das schäumte und sprudelte, als hätte jemand es zum Kochen gebracht.
»Himmel, hilf!«, murmelte nun auch Valentin. »Das kann nur schief gehen …«
Hier war es: das Eiserne Tor!
Sollte die gefährlichste Stelle der ganzen Donau ihr Ende bedeuten? Ich will nicht sterben!, dachte Helmut voller Panik. Was wird dann aus Hannah und Flora? Ich will zurück nach Gönningen!
Vor seinem inneren Auge sah Helmut plötzlich seinen alten Lehrer Grimme vor sich, der in der Gönninger Schule die Landkarte entrollte und mit seinem Stock die Schlangenlinie namens Donau entlangfuhr. Wie sehr hatten er, Helmut, und Valentin die Geografiestunden geliebt! Andächtig hatten sie den Geschichten gelauscht, die vom gefährlichen Kampf zwischen Wasser und Gestein erzählten. Die Südkarpaten! Das Balkangebirge! Und dazwischen die allmächtige Donau. Mutige Männer, die sich mit ihren Schiffen durchs Eiserne Tor wagten. Selbst nach dem Unterricht hatten sich die Brüder nicht von der Karte losreißen können, nachts hatten sie von dem wilden Fluss geträumt und davon, ihn selbst einmal zu befahren.
Und nun …
Eine lähmende Angst klumpte sich in Helmuts Magen zusammen, er wollte schreien, die anderen auf die drohende Gefahr aufmerksam machen. Der alte Donauwolf – warum tat er nichts? Doch kein Ton wollte über seine Lippen kommen.
So fühlt es sich also an, wenn man stirbt.
Helmut schloss die Augen, wartete auf den sicheren Tod. Darauf, dass das Schiff am Felsen zerschellte.
Der Augenblick wurde länger, und durch die geschlossenen Lider spürte Helmut etwas Warmes, Helles. Er blinzelte vorsichtig und sah Sonnenlicht. Alles vorbei? War er schon im Himmel? So einfach war das? Keine Schmerzen, keine Qual?
»Geschafft!«, dröhnte es in seinem linken Ohr. Eine Pranke fiel auf seine Schulter. Zitternd drehte er sich um.
»So wie diese Stromschnellen stellt man sich die Hölle vor,nicht wahr?« Herbert Richter lachte. Er hatte die ganze Nacht hindurch Karten gespielt, unter seinen Augen lagen blaue Schatten. Er sah noch hagerer aus als sonst, schien aber bester Laune zu sein.
»Wir können froh sein, dass wir nicht zwanzig Jahre früher hier durch mussten, sonst hätte es dem Schiff wahrscheinlich den Bauch zerrissen!«, sagte er. »Damals gab’s noch nicht einmal eine Karte von diesem Streckenabschnitt, in der die Unterwasserfelsen verzeichnet gewesen wären.«
»Und heute gibt es die?«, fragte Valentin. Auch er war leichenblass.
Richter nickte. »Ein ungarischer Graf hat sich der Sache angenommen. In einem Jahr mit extremem Niedrigwasser beauftragte er einen Ingenieur, hier entlangzuschippern und seine Beobachtungen festzuhalten. Mit seiner Karte ist es für die Schiffer leichter geworden. Das hätte ich euch vielleicht früher erzählen sollen, was?« Er zwinkerte ihnen gut gelaunt zu. »Was haltet ihr davon, wenn ich euch heute Abend in Orsova zu einem ordentlichen Krug Wein einlade?« Richter schepperte mit seinem Geldsack, der schwer von seinem Gürtel herabhing. »Gleich morgen früh haben wir das Eiserne Tor vor uns, und wenn der Kapitän den Schlüssel zum Aufschließen in die Hand nimmt« – er lachte ob seines Wortspiels –, »ist es für uns Passagiere ganz nützlich, nicht mehr im Besitz aller Sinne zu sein.«
»Was?«, schrie Helmut entsetzt. »Das war noch gar nicht das Eiserne Tor?«
Sie hatten Glück: Der Schlüssel zum Eisernen Tor passte. Die Lotsen führten die »Malinka« sicher hindurch, und auch der Rest der Karawane kam heil durch die steinerne Grotte.
Danach wurde die Fahrt ruhiger, und die Anspannung der Brüder ließ nach.
In Vidin ging Herbert Richter von Bord, um seinen Geschäften nachzugehen. Die Brüder deckten sich nochmals mit Reiseproviant ein, bevor das nächste Wegstück in Angriff genommen wurde.
Der wilde Ritt der vergangenen Wochen
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