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Die Samenhändlerin (German Edition)

Die Samenhändlerin (German Edition)

Titel: Die Samenhändlerin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Durst-Benning
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Droschken und Einspännern abwarten mussten, um sicher von einem Gehsteig auf den anderen zu gelangen. Ein Sprachengemisch aus Russisch, Deutsch, Polnisch und – laut Leonards Auskunft – Armenisch drang aus den unzähligen Cafés und Wirtshäusern, quoll aus den vielen kleinen Märkten. Ja, selbst die Droschkenfahrer, die immer wieder anhielten, um nachzufragen, ob Bedarf an einer Fahrt bestünde, redeten in unterschiedlichen Sprachen. Als Helmut eine entsprechende Bemerkung machte, zog Leonard ein Gesicht.
    »Die vielen Einwanderer werden langsam zum Problem! Alle wollen einen Blick durch das ›Fenster in den Süden‹ werfen! Alle hoffen auf das große Glück, aber nur die wenigsten wollen dafür arbeiten. Wenn das so weitergeht, werden wir uns in ein paar Jahren der vielen Bettler nicht mehr erwehren können.«
    Helmut und Valentin schauten sich bedeutungsvoll an. Solche Worte aus dem Mund eines Mannes, der selbst erst vor einigen Jahrzehnten ins Land gekommen war …
    Sie staunten auch nicht schlecht über die vielen weitläufigen Parks, welche die einzelnen Stadtteile miteinander verbanden. In einen einzigen Park hätte ganz Gönningen fünf Mal hineingepasst! Die Odessiten scheinen wahre Gartenliebhaber zu sein, ging es Helmut durch den Kopf, als sie eine weitere, nicht enden wollende Baumallee entlangspazierten.
    Leonard, der Helmuts prüfenden Blick gesehen hatte, bemerkte: »Warte nur ab, bis sie wieder ihr grünes Kleid tragen. Dann fühlt man sich in ganz Odessa wie unter einer grünen, schattigen Haube – eine Pracht ist das! Könnt ihr euch vorstellen, dass in den letzten zwanzig Jahren innerhalb der Stadtgrenze mehr als vierzigtausend Bäume angepflanzt wurden? Ein Teil davon ist leider schon in den ersten Jahren eingegangen – vor allem im Sommer fehlt es hier an Regen –, aber ein Großteil hat sich diesen Bedingungen angepasst. Es blieb den Bäumen ja auch nichts anderes übrig, nicht wahr? Nur wer sich anpasst, überlebt!« Leonard lachte verschmitzt.
    Die beiden Brüder tauschten erneut einen Blick. Jeder konnte die Gedanken des anderen lesen: vierzigtausend Bäume – die Leute hier scheinen in anderen Dimensionen zu rechnen …
    Wie würden ihre Blumen und Rosen wohl mit den eisigen Winden im Winter und den trockenen Sommern zurechtkommen?
    Nur wer sich anpasst …
    Auch wenn die Stadt in Leonards Augen erst im Frühjahr ihre ganze Pracht entfaltete, so zeigte sich Odessa an diesem sonnigen Wintertag doch aufgeputzt wie eine feine Dame für den nächsten Ball. Dieser Eindruck machte den Brüdern Angst: Hier sollten sie ihren lumpigen Samen verkaufen? Sie waren in der Annahme hierher gekommen, den Russen mit ihrenWaren etwas Besonderes, etwas aus der reicheren Welt bieten zu können. Doch angesichts des an allen Ecken spürbaren Wohlstands kamen ihnen erste Zweifel. Mit jedem Palast, an dem sie vorbeikamen und dessen Bewohner Leonard mit Namen nennen konnte, wurden Helmut und Valentin kleinlauter. In Böhmen, da waren sie »große« Männer, da waren sie wichtig, dort wurden ihre Ansichten und Ratschläge ernst genommen. Aber hier …
    Als sie schließlich in dem Gasthaus saßen, leerte Helmut seinen ersten Krug Wein so schnell, dass ihm schwindlig wurde. Unauffällig wollte er die Hände um eins der Tischbeine legen, doch als er die fein gedrechselte, vergoldete Säule zu fassen bekam, ließ er sie aus lauter Angst, durch seinen groben Griff etwas kaputt zu machen, gleich wieder los.
    Inzwischen kam er sich vor wie der letzte Bauerntölpel, und er konnte nicht behaupten, dass ihm das gefiel.
    Warum hatte Leonard sie nicht in ein Wirtshaus mit vernünftigen Holztischen führen können statt in dieses Puppenhaus, schoss es ihm ärgerlich durch den Kopf. Wollte er sie auf Teufel komm raus beeindrucken? Oder gab es in dieser Stadt womöglich gar keine einfachen Schankstuben?
    In fließendem Russisch – oder hatte Odessa gar eine eigene Sprache? – bestellte Leonard etwas zu essen. Nachdem sich die Bedienung von ihrem Tisch entfernt hatte, war Valentin der Erste, der seinem inneren Aufruhr Luft machte.
    »Ehrlich gesagt, ich bin ziemlich erledigt! Da glaubt man, wir Samenhändler seien gut zu Fuß, aber der Marsch durch Odessa hat mich eines Besseren belehrt. Diese Stadt ist einfach … riesengroß!«
    Leonard nickte. Seine Aufmerksamkeit wurde jedoch gleich darauf von der Platte mit Essen in Beschlag genommen, welche die Bedienung in die Tischmitte stellte. Er hob einen kleinen

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