Die Sanddornkönigin
Raum war zwar nicht das, was sie unter einem gemütlichen Zuhause verstand, dazu war alles ein wenig zu groß, ein wenig zu luxuriös, ein wenig zu sauber. Aber es war Persönlichkeit zu erkennen, bemalte Muscheln lagen auf der Fensterbank, im Bücherschrank fand sie Erziehungsratgeber und Kochbücher, neben dem Sofa standen ausgetretene Hausschuhe, und ein goldgerahmtes Familienfoto hing an der Wand, das Vater, Mutter und zwei Töchter zeigte.
»Hat Fokke nicht hier gewohnt?«, fiel ihr auf einmal ein.
»Fokke?« Gronewoldt beugte sich ein wenig vor, doch es fiel bei seinem Leibesumfang kaum auf. »Er hat hier nie gewohnt, nein. Im Hotel schon, zurzeit hat er ja auch ein Zimmer unterm Dach, aber er war ja immer wesentlich älter als seine Halbschwestern und ging auch einige Jahre auf dem Festland zur Schule und in die Lehre.«
Nirgendwo hing ein Bild von ihm, was schade war. Denn erstens sprach es nicht unbedingt dafür, dass er ein liebevolles Elternhaus hatte, und zweitens hätte Wencke gern gesehen, wie er als kleiner Junge ausgesehen hat. Wie wohl sein Zimmer war? Appetitliche Stillleben an den Wänden oder Pin-ups? Sie würde ihn mal dort oben besuchen, zunächst rein beruflich, versteht sich.
Ein Fotokalender zog ihre Aufmerksamkeit auf sich, er hing neben dem schweren Sekretär. Das Oktoberbild leuchtete ihr mit orangefarbenen Punkten entgegen, schwarze Dornenornamente schoben sich diskret in den Hintergrund, der Sand dahinter war nur zu erahnen. Sanddorn. Sie erinnerte sich, wie leicht die bleiche Hand auf dem dunklen Geäst gelegen hatte, wie sanft der nackte Frauenkörper auf den holzigen Spitzen gebettet war. Derjenige, der sie so zurückgelassen hatte, musste einen ausgeprägten Sinn für Ästhetik besitzen. Die Fotos, die der Kollege von der Beweisaufnahme geschossen hatte, würden etwas nahezu Künstlerisches an sich haben. Wencke spürte, wie etwas in ihr aufkeimte, eine Art von Traurigkeit, die ihr aus dem Bauch herauswuchs. Diese Geschichten von all den Unabänderlichkeiten, die das Leben dieser Menschen mitbestimmt hatten und schließlich mit der schönen Toten in den Dünen endeten, wucherten in ihrem Inneren. Sie versuchte das Gefühl zu unterdrücken, es durfte nicht in ihrem Kopf ankommen, sonst wäre der Fall hier für sie verloren. Doch sie hatte, was sie wollte. Sie war nicht mehr obenauf, lief nicht mehr nur mit Schlittschuhen über die makellose Oberfläche.
Sie war nun eingetaucht in diese Geschichte, und es war kälter, als sie erwartet hatte.
»Eine Frage hätte ich noch, Herr Gronewoldt, ich hoffe, Sie dürfen mir diese Auskunft geben.«
Er schaute sie aufmerksam an. »Bitte!«
»Hat Frau Felten-Cromminga irgendwelche Medikamente genommen?«
»Ja, selbstverständlich. Hat das eine Bedeutung für Ihren Fall?«
»Sonst würde ich Sie nicht fragen.«
»Ich habe Tranquilizer verordnet, da sie unter Angstzuständen leidet. Benzodiazepine.«
Ihr war kalt, obwohl sie im Schrank noch eine alte Wachsjacke gefunden hatte. Der kleine Gasbrenner war zum Glück noch immer da und tat vermutlich sein Bestes, doch die Kälte schien sich hier bereits eingenistet zu haben. Hilke wusste, dies hier war keine Lösung auf Dauer, höchstens für ein paar Stunden, vielleicht auch bis morgen früh. Es kam ganz auf Fokke an. Doch schlafen durfte sie nicht, auf gar keinen Fall, es konnte jederzeit eine Silhouette auf dem Dünenkamm auftauchen, und dann hätte sie nur noch wenige Sekunden Zeit, durch das angelehnte Hinterfenster zu fliehen. Sie hielt die Augen offen, was bei zunehmender Dämmerung immer anstrengender wurde.
Noch niemals hatte Hilke sich so in die Enge getrieben gefühlt, sie litt zwar schon Jahre darunter, dass Thore ihr ein Leben aufzwang, welches nicht das ihre war, doch mit einem Mal war ihr bewusst geworden, dass es hier um mehr ging als nur um ihre Ehe. Dass diese nur noch ein psychischer Gewaltakt war, damit hatte sie sich inzwischen abgefunden. Sie hatte immer gedacht, wenn sie sich nur unsichtbar machte und niemanden, besonders nicht ihren Mann, mit ihrem Dilemma belastete, dann käme sie so über die Jahre. Doch vielleicht hatte sie auch gar nicht über die Zukunft nachgedacht. Vielleicht war es schon zu viel verlangt gewesen, mehr zu überblicken als das, was man leise so hinnahm.
Nie hatte sie daran gedacht, dass sie Thore im Weg sein könnte. Dass sie ihn daran hinderte, dorthin zu kommen, wo er sich an seinem hoch gesteckten Ziel wähnte. Und nun war sie
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