Die Sanddornkönigin
kurzen Moment in die Knie, dann rannte sie weiter. Wenn sie die nächste Düne hinter sich gelassen hatte, würde ihr der kurze Vorsprung einen Moment zum Atemholen lassen. Ihr rechter Fuß versank im weichen Sand eines Kaninchenloches, sie blieb darin hängen und musste sich ein Stück emporziehen. Sie bekam einen Bund Strandhafer zu fassen, die Halme schnitten in ihre Handflächen, waren aber verwurzelt genug, ihr genügend Halt zu geben. Sie hatte es fast geschafft, auf allen vieren kroch sie über den Dünenkamm. Dahinter breitete sich der Kaifarmer aus, ein neues Stück Insel, das erst vor zwanzig Jahren mit Juist zusammengewachsen war. Hilke erinnerte sich noch gut, wie dieses Stück Land bei jeder höheren Flut überspült worden war. Die bewachsene Fläche war unbarmherzig weit und flach, nahm ihr jede Möglichkeit, unbemerkt davonzukommen. Hier waren die Dünen und somit auch ihre Flucht zu Ende. Sie legte sich schwer auf den sandigen Untergrund, eine Welle von Übelkeit übermannte sie.
Ein vorsichtiger Blick zurück ließ sie kurz aufatmen, es war ihr niemand gefolgt. Vielleicht hatte sie Glück und der Suchtrupp hielt sich etwas länger in der Hütte auf. Es blieb ihr nichts anderes übrig, sie musste es schaffen, von den Männern unbemerkt in die andere Richtung zu gelangen. Fokke würde sich bestimmt bald melden und ihr weitere Anweisungen geben. Dann würde es irgendwie weitergehen, da war sie sich sicher. Sie musste nur diese Dünen hier verlassen, denn hier saß sie hoffnungslos in der Falle.
In südlicher Richtung waren die Dünen stärker bewachsen, Hilke ließ sich ein Stück weit den Dünenabhang zum Strand hinunter und versuchte zu rennen.
Es kam ihr vor wie die Fahrt in einer Achterbahn, die sanften, nahezu unbewachsenen Sandberge zwangen sie zu einem steten Auf und Ab. Sie wusste, sie kam nur langsam voran, doch waren die Männer hinter ihr mit Sicherheit auch nicht viel schneller zu Fuß.
Erst meinte sie, es sei nur eine stürmische Windböe, doch als das grummelnde Geräusch lauter wurde, schaute sie in den grauen Himmel. Der Hubschrauber war noch über dem äußersten Zipfel der Nachbarinsel Norderney, doch er kam sehr schnell näher. Sie erstarrte kurz, dann stieg sie im rechten Winkel die Randdüne empor, bei jedem Schritt nach oben sackte sie ein, als ob sie auf einer nach unten laufenden Rolltreppe hinaufgelangen wollte. Sie hörte das Telefon, doch es war ihr unmöglich, an den Apparat zu gehen. Das flatternde Dröhnen der Rotoren rückte näher, Hilke warf sich mit letzter Kraft über die letzte Erhöhung und ließ sich mit geschlossenen Augen den Abhang hinunterrollen. Es war ihr egal, wo sie landete, sie war am Ende. Wenn der Hubschrauber ihretwegen in der Luft war, dann war alles verloren. Der braune Schlafsack wand sich um ihren Körper, schnürte ihn ein und schützte ihn vor den unsanften Stößen des festen Wurzelwerkes. Ein dorniger Strauch bremste ihren Absturz, sie spürte einen reißenden Schmerz in der Wange, und als sie die Augen öffnete, sah sie, dass sie sich in einem Sanddorngebüsch verfangen hatte. Sie war unter die dichten schwarzen Äste gerollt und lag nun in einer engen Höhle, die sich um den Stamm herum gebildet hatte. Als Kinder hatten sie früher in solchen Verstecken die Nachmittage verbracht. Jeder hatte seinen eigenen Geheimplatz gehabt. Und dies war nun ihrer. Das Telefon war wieder still, Hilke hoffte, dass Fokke es wieder versuchen würde, und behielt den Apparat in der Hand. Sie zerrte den Schlafsack von ihrem Körper und stieg hinein, die dunkle Tarnfarbe konnte ihr von Nutzen sein, dann rollte sie sich zusammen, machte sich so klein wie möglich und kauerte dicht am Stamm.
»Wenn sie hier nicht ist, dann hat es keinen Sinn, überhaupt weiterzusuchen.« Keine fünfzig Schritte entfernt tauchten zwei junge Männer auf. Der eine schob die Zweige einer Apfelrosenhecke auseinander, der andere blickte angestrengt um sich. Sie kannte die beiden, es waren Schulfreunde von Fokke, gerade erwachsen gewordene Jungen, die sie früher ausgeschimpft hatte, wenn sie die Schuhe nicht abgetreten hatten. Nun hatte sie Angst vor ihnen.
»Wenn wir sie nicht finden, dann die Verstärkung aus der Luft«, sagte der Größere von beiden, der David oder Daniel hieß und einmal ein frecher kleiner Kerl gewesen war. Er schaute in den Himmel, der Hubschrauber hatte die Insel jetzt erreicht, er flog ziemlich tief, und der Lärm wurde ohrenbetäubend. Sand pustete durch die
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