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Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)

Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)

Titel: Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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nach draußen. Seine Rinde schimmerte wie die Schuppen eines Drachen und ließ ihn im Mondlicht wie etwas Lebendiges aussehen. Wenn Meiniang sich auf die Zehenspitzen stellte, konnte sie den Ast mit der Hand berühren. Er fühlte sich kalt an wie eine Schlange. Vor ihr tauchte die Szene auf, wie sie vor einigen Jahren, verrückt vor Liebe, auf der Suche nach einem Schlangenpaar die Felder durchstreift hatte; eine Welle von Hoffnungslosigkeit und Scham überkam sie. »Ach, Exzellenz, nie wirst du die ganze Bitternis meiner Liebe zu dir begreifen können. Wie könnte deine Frau, diese Dame aus gutem Hause, je verstehen können, was ich durchmache? Gnädige Frau, ich habe gar nicht die Absicht, Euch Euren Mann wegzunehmen, ich bin nichts weiter als ein Opfer auf dem Altar des Himmelstempels und lasse die Götter frei über mich verfügen. Habt Ihr denn noch nicht bemerkt, daß Euer Gatte dank meiner wie ein vertrockneter Weizenhalm im Frühlingsregen ist? Wenn Ihr wirklich aufgeschlossen und edelmütig seid, gnädige Frau, dann solltet Ihr mein Verhältnis mit ihm unterstützen; wenn Ihr wirklich vernünftig und verständig seid, dann solltet Ihr meine Besuche im Yamen nicht verhindern. Ach, gnädige Frau, es ist ein vergebliches Bemühen, meine Besuche verhindern zu wollen! Ihr wärt vielleicht in der Lage, Tang Seng, Sha Seng und Sun Wukong von der Reise nach dem Westen abzuhalten, aber es wird Euch nicht gelingen, Sun Meiniang auf ihrem Weg zu Qian Ding aufzuhalten! Sein Ruhm, sein Rang, sein Familienbesitz sind Euer; doch sein Körper, sein Geruch, sein Schweiß sind mein.
    Ich, Meiniang, habe schon als Kind mit meinem Vater auf der Bühne gestanden und die Katzenoper gesungen. Auch wenn ich nicht die Leichtigkeit einer Schwalbe habe, bin ich doch beweglich; auch wenn ich nicht über Mauern springen und auf Dächern laufen kann, kann ich doch auf Bäume hinaufklettern und mich an Ästen hochziehen. Das Sprichwort sagt: Der verzweifelte Hund springt auf die Mauer, die Katze klettert den Baum hinauf. Ich bin weder das eine noch das andere und werde trotzdem den Baum hinaufklettern und auf die Mauer springen. Ich habe keinen großen Stolz, ich bringe Yin und Yang durcheinander und habe keine Ambitionen, Cui Yingying nachzueifern, die im Pavillon des Westens auf den Mond wartet. Eher bin ich ihr Zhang Junrui, der nachts um ihretwillen über die Mauern steigt. Junrui stieg über die Mauer, um Yingying zu treffen, Meiniang steigt über die Mauer, um ihren Geliebten zu sehen. Wer wird einmal die Oper Pavillon des Westens mit mir in der Hauptrolle aufführen?«
    Sie ging zwei Schritte zurück, zog ihren Gürtel fest und ordnete ihre Kleider; dann holte sie tief Luft und sprang. Sie bekam den Ast zu fassen, der heftig in der Nachtluft vibrierte.
    Eine Eule, die im Baum saß, wurde aufgeschreckt, stieß einen bizarren Schrei aus und flog geräuschlos in Richtung Yamen. Die Eule  – der Lieblingsvogel Seiner Exzellenz. In den großen Schnurbäumen im Vorratshof sammelten sich immer Dutzende von Eulen. Qian Ding nannte sie die Schutzgötter der Vorräte  – und der schlechte Stern der Ratten. Er pflegte sich dabei über den Bart zu streichen und zu rezitieren: »Die Ratten in den Kornkammern sind wie Scheffel so groß, selbst, wenn man die Tür aufmacht, rennen sie nicht los ...« Ein Kenner der klassischen Dichtkunst, ein Experte in allen Belangen der alten wie der neuen Zeit, das war ihr Geliebter. Meiniang packte den Ast mit beiden Händen, zog sich hoch und kletterte weiter.
    Der Nachtwächter schlug die Glocke zur dritten Doppelstunde der Nacht. Im Yamen war alles still. Von der Astgabel aus sah Meiniang die kleine Glaskuppel des Gartenpavillons im Mondlicht funkeln, daneben den silbrigen Schimmer des kleinen Teichs. Aus dem westlichen Salon drang ein vager Lichtschein. Sicher hieß das, daß sich dort das Krankenlager des Präfekten befand. »Bestimmt hebt Ihr gerade den Kopf, Exzellenz, und sehnt Euch nach mir. Bestimmt ist Euer Innerstes so aufgewühlt wie brodelnde Suppe. Sei unbesorgt, Geliebter, hier kommt Suns Tochter Meiniang von der Mauer herabgesprungen. Selbst wenn deine Frau neben dir sitzt und dich bewacht wie eine Tigerin ihre Beute, selbst wenn sie mich mit einer Lederpeitsche auspeitschen würde, niemals würde ich davon ablassen!‹
    Meiniang hangelte sich im Baum nach vorn und sprang auf die Mauer hinunter. Was dann geschah, würde sie nie vergessen  – sie rutschte ab und stürzte in den Hof.

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