Die sanfte Entfuehrung des Potsdamer Strumpftraegers
Plötzlich fühlte ich mich nicht mehr wie der fiese Gangster, der alles in der Hand hat, sondern wie ein kleines Rädchen in einem großen Apparat, der ohne mein Wissen schon jahrelang munter vor sich hin geächzt und gedampft hat. Wir sind einfach nur Mitspieler, weil …
»… weil die Sender die Lösegelder natürlich von der Steuer absetzen«, beendete und bestätigte Jauch meinen Gedankengang. »Nach Paragraph dreiunddreißig des deutschen Einkommenssteuergesetzes ist es möglich, Lösegeldzahlungen als außergewöhnliche Belastung steuerlich abzuschreiben. Wenn, ich zitiere mal aus dem Gedächtnis, sich der Steuerpflichtige den Aufwendungen aus sittlichen Gründen nicht entziehen kann, soweit die Aufwendungen notwendig sind. Und wenn sie einen angemessenen Betrag nicht überschreiten. Mit anderen Worten: Die Sender haben die Verpflichtung, ihre Mitarbeiter wieder auszulösen.«
»Das ist ja ein starkes Stück«, kommentierte Katja, die sich bisher eher durch Zurückhaltung ausgezeichnet hat. Und dadurch, dass sie zuverlässig die Gläser wieder auffüllte.
Ich dachte die ganze Sache schon etwas weiter:
»Steht das echt so im Steuerrecht? Ein angemessener Betrag?«
»Ja, da bin ich mir sicher«, bestätigte Jauch.
»Der richtet sich ja bestimmt auch nach der Zahlungskraft des Erpressten, nicht?«
»Ich merke, so langsam begreifen Sie es.« Herr Jauch verschränkte die Arme und sah mich herausfordernd an. Auch so eine typische Haltung von ihm. »An welche Summe hatten Sie denn gedacht? Ich habe da schon eine Vorstellung, aber sagen Sie mal!«
Und schon sind wir wieder im Jetzt angekommen. Jetzt, Montag, 22.15 Uhr, zu der Zeit, zu der Wer wird Millionär zu Ende geht, wenn es mal eine Doppelfolge gibt. Ich wende mich von der Uhr wieder ab und Herrn Jauch zu und sage, was wir uns gedacht haben und was er sich mit Sicherheit nun gerade denkt, was wir uns gedacht haben: »Eine Million.«
»Dachte ich mir«, sagt er prompt. »Machen Sie einfach eine Million für jeden draus. Das wird gezahlt, kein Problem. Das ist ein Werbeblock beim Supertalent.«
Zeitgleich greifen Katja, Herr Müller und ich zu unseren Gläsern und kippen den Inhalt in uns hinein.
»Außerdem zahlen die mir auch eine kleine Aufwandsentschädigung«, fährt Jauch derweil fort. »Aber das bleibt unter uns. Ich glaube, ich stehe momentan ganz oben in der deutschen Rangliste. Es sei denn, Thommy Gottschalk würde grade auch entführt, dann lägen wir beide bei acht. Das frage ich ihn mal, wenn ich wieder zu Hause bin. Gibt es noch Wein? Der Wein ist wirklich gut.«
»Ja, das ist auch der beste bei uns im Laden«, sage ich und öffne eine neue Flasche.
»Stimmt, Sie sind der Supermarkt-Mann, der immer schon vorher weiß, für wie viel Geld die Leute einkaufen. Das habe ich mir gemerkt.«
Ich verdrehe die Augen.
»Respekt. Das hätte ich mir nicht gemerkt«, sagt Herr Müller.
»Im Behalten von unnützem Wissen bin ich ganz groß«, sagt Herr Jauch.
Wir stoßen zum gefühlt fünfzehnten Mal an.
»Und was arbeiten Sie?«, fragt Herr Jauch Herrn Müller.
»Zurzeit bin ich in der Energieberatung tätig. Ich besuche irgendwelche Leute und sage ihnen, dass sie ihre Geräte nicht auf Standby lassen, sondern ausschalten sollen. Und gelegentlich den Kühlschrank abtauen. Das sind so ziemlich neunzig Prozent des Jobs.«
»Aha«, sagen Herr Jauch und ich unisono. Ich wusste tatsächlich nicht, was Herr Müller zurzeit treibt, wenn er außer Haus ist, und ich hoffe, es werden keine Anschlussfragen über die Sinnhaftigkeit gestellt.
»Und Sie verkaufen sicher Schuhe«, sagt Jauch in Richtung Katja.
»Nein, ich orientiere mich noch. Ich will was in der Sprechrichtung machen.«
Es ergeben sich keine Anschlussfragen.
»Das können Sie dann ja bald etwas lockerer angehen, wenn das Geld da ist«, sagt Jauch. Den Satz habe ich von ihm schon oft gehört.
Wir stoßen zum gefühlt sechzehnten Mal an.
»Habe ich das jetzt eigentlich richtig verstanden, Herr Jauch?«, fragt Katja. »Praktisch jeder, den man im Fernsehen sieht, wurde schon mal entführt?«
»Im Prinzip ja«, sagt er, »aber das ist so wie überall. Manche sind gefragter, manche nicht. Das sage ich jetzt mal so ganz uneitel. Ich mache ja schon ein paar Jahre lang Fernsehen, also bin ich ein bisschen bekannter als zum Beispiel der Moderator von Land und Leute im NDR oder als Steffen Hallaschka. Für mich gehört es einfach zum Beruf und zum Leben dazu mittlerweile, das ist ja mit allem
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