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Die Satanischen Verse

Die Satanischen Verse

Titel: Die Satanischen Verse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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Chamcha, der den Kopf drehte, um dem Jungen nachzuschauen, sah, dass er mühelos durch eine Allee sich überwölbender Bäume fuhr, durch die das heiße Sonnenlicht hier und da tropfte. Der Schock, den Schauplatz seines Traums entdeckt zu haben, verwirrte Chamcha vorübergehend und hinterließ einen üblen Geschmack in seinem Mund: das säuerliche Aroma des Hätte-sein-können.
    Gibril winkte einem Taxi und sagte Trafalgar Square.
    Oh, er war an jenem Tag in Hochstimmung, schwafelte mit nahezu altem Brio über London und die Engländer. Wo Chamcha attraktiv verblichene Grandeur sah, sah Gibril eine Ruine, eine Crusoe-Stadt, gestrandet auf der Insel ihrer Vergangenheit, die mit Hilfe einer Freitag-Unterschicht versuchte, den Schein zu wahren. Unter dem Stieren steinerner Löwen scheuchte er Tauben auf und brüllte: »Ich schwör’s dir, Spoono, bei uns zu Hause würden die Dickerchen keinen Tag überleben, komm, schnappen wir uns eins fürs Abendessen.«
    Chamchas englische Seele wand sich vor Scham. Später, am Covent Garden, beschrieb er Gibril zu dessen Frommen den Tag, an dem der alte Obst -und Gemüsemarkt nach Nine Elms gezogen war. Die Behörden, besorgt wegen der Ratten, hatten die Kanalisation abgedichtet und Zehntausende getötet; aber Hunderte hatten überlebt. »An jenem Tag schwärmten verhungernde Ratten übers Pflaster«, erinnerte er sich. »Die Strand hinunter und über die Waterloo Bridge, in die Geschäfte, verzweifelt auf der Suche nach Nahrung.« Gibril schnaubte.
    »Jetzt weiß ich, dass das ein sinkendes Schiff ist«, rief er, und Chamcha war wütend, dass er ihm das Stichwort geliefert hatte.
    »Sogar die Scheißratten sind weg.« Und nach einer Pause:
    »Was die brauchten, war ein Rattenfänger, was? Einen, der sie mit einem Lied ins Verderben führte.«
    Wenn er nicht gerade die Engländer beleidigte oder Allies Körper von den Haarwurzeln bis zu dem weichen Dreieck des »Orts der Liebe, dem verdammten Yoni«, beschrieb, schien er Listen aufzustellen: welches Chamchas zehn Lieblingsbücher seien, wollte er wissen, ebenso Filme, weibliche Filmstars, Essen. Chamcha gab ihm konventionelle, kosmopolitische Antworten. Auf seiner Filmliste standen unter anderem Panzerkreuzer Potemkin, Citizen Kane, Die Sieben Samurai, Alphaville, Der Würgeengel. »Dir hat man das Gehirn gewaschen«, sagte Gibril abschätzig. Der ganze westliche Kunsthausdreck.« Se ine Top Ten von allem kamen von »Zuhause« und waren auf aggressive Weise anspruchslos.
    Mother India, Mr. India, Shree Charsawbees: kein Ray, kein Mrinal Sen, kein Aravindan, kein Ghatak. »Dein Kopf ist voller Schund«, verwies er Saladin, »du hast alles Erinnernswerte vergessen.«
    Seine wachsende Erregung, seine quasselnde Entschlossenheit, die Welt in eine Hitparade zu verwandeln, sein scharfer Gang – am Ende ihres Streifzugs hatten sie wohl über dreißig Kilometer zurückgelegt -, all das sagte Chamcha, dass es nun nicht mehr viel bedürfte, ihm den Rest zu geben.
    Offensichtlich habe ich mich jetzt auch als Hochstapler entpuppt, Mimi. Die Kunst des Attentäters besteht darin, das Opfer nahe an sich zu ziehen; das macht es einfacher, es zu erdolchen. »Ich habe Hunger«, verkündete Gibril gebieterisch.
    »Bring mich zu einer deiner Top Ten-Lokalitäten.«
    Im Taxi stichelte Gibril Chamcha, der ihn nicht über das Fahrziel aufgeklärt hatte. »So ein Franzosenladen, na? Oder ein Japaner, wo ‘s nur rohen Fisch und Polypen gibt. Gott, warum traue ich deinem Geschmack.«
    Sie fuhren beim Café Shaandaar vor.
     
    Jumpy war nicht da.
    Auch hatte Mishal Sufyan das Verhältnis mit ihrer Mutter offenbar noch nicht wieder ins Lot gebracht; Mishal und Hanif waren nicht da, und weder Anahita noch ihre Mutter bereiteten Chamcha einen Empfang, der als warm beschrieben werden konnte. Nur Hadschi Sufyan war freundlich: »Komm, komm her und setz dich, du siehst gut aus.« Das Café war eigentümlich leer, und selbst Gibril verursachte kaum Aufsehen. Chamcha brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, was los war; dann sah er das Quartett weißer Jugendlicher, die an einem Ecktisch saßen und Streit suchten.
    Der junge Bengali-Kellner (den Hind nach dem Weggang ihrer älteren Tochter hatte anstellen müssen) kam und nahm ihre Bestellung auf - Auberginen, Sikh Kababs, Reis -, wobei er wütend in die Richtung des lästigen Quartetts blickte, das, wie Saladin bemerkte, wirklich betrunken war. Der Kellner, Amin, ärgerte sich ebenso sehr über Sufyan wie

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