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Die Satanischen Verse

Die Satanischen Verse

Titel: Die Satanischen Verse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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Schatten der Stadtmauer.
    Was ihn betrifft, den Propheten Verkünder Geschäftsmann: seine Augen sind nun offen. Er schreitet im Innenhof seines Hauses auf und ab, des Hauses seiner Frau, und will nicht zu ihr hinein. Sie ist fast siebzig und fühlt sich gegenwärtig mehr als Mutter denn als Ehefrau. Sie, die reiche Frau, die ihn vor langer Zeit anstellte, damit er ihre Karawanen beaufsichtigte.
    Seine Managementfähigkeiten waren das erste, was sie an ihm mochte. Und nach einer Weile verliebten sie sich ineinander. Es ist nicht leicht, eine hochintelligente, erfolgreiche Frau zu sein in einer Stadt, in der die Götter zwar Frauen sind, die Frauen dagegen lediglich Ware. Die Männer hatten sich entweder vor ihr gefürchtet oder sie für zu stark gehalten, um ihrer Rücksichtnahme zu bedürfen. Er hatte sich nicht gefürchtet und ihr das Gefühl von Beständigkeit gegeben, das sie brauchte.
    Wogegen er, der Waise, in ihr viele Frauen in einer fand: Mutter Schwester Geliebte Seherin Freundin. Wenn er sich für verrückt hielt, war sie diejenige, die an seine Visionen glaubte. »Es ist der Erzengel«, sagte sie zu ihm, »nicht irgendein Hirngespinst.
    Es ist Gibril, und du bist der Verkünder Gottes.«
    Er kann sie will sie jetzt nicht sehen. Sie beobachtet ihn durch das steinerne Gitterwerk eines Fensters. Er kann nicht stehenbleiben, läuft im Hof herum in einer ziellosen Abfolge unbewusster Geometrien, seine Schritte zeichnen Ellipsen, Trapeze, Rauten, Ovale , Ringe. Während sie sich daran erinnert, wie er von den Karawanenwegen zurückkehrte, voller Geschichten, die er in Oasen am Wegrand vernommen hatte.
    Ein Prophet namens Isa, geboren von einer Frau namens Maryam, geboren von keinem Mann unter einer Palme in der Wüste. Geschichten, die seine Augen leuchten und sie dann in die Ferne schweifen ließen. Sie entsinnt sich seiner Erregbarkeit: die Leidenschaft, mit der er, wenn nötig die ganze Nacht, behauptete, dass die alten, nomadischen Zeiten besser gewesen seien als diese Stadt aus Gold, in der die Menschen ihre neugeborenen Töchter in der Wildnis aussetzen. Bei den alten Stämmen war sogar für das ärmste Waisenkind gesorgt worden. Gott ist in der Wüste, sagte er immer, nicht hier in dieser Fehlgeburt von einem Ort. Und sie antwortete, niemand bestreitet das, Liebster, es ist spät, und morgen müssen wir die Bücher führen.
    Ihren Ohren entgeht nichts; sie hat bereits gehört, was er über Lat, Uzza, Manat sagte. Na und? Früher wollte er die neugeborenen Töchter Jahilias schützen; warum sollte er nicht auch die Töchter Allahs unter seine Fittiche nehmen? Aber nachdem sie sich diese Frage gestellt hat, schüttelt sie den Kopf und lehnt sich schwer an die kühle Wand neben ihrem steinvergitterten Fenster. Während unter ihr ihr Mann in Fünfecken, Parallelogrammen, sechseckigen Sternen geht und dann in abstrakten und zunehmend verschlungenen Mustern, für die es keine Namen gibt, als ob er keine einfache Linie finden könnte.
    Als sie jedoch ein paar Augenblicke später in den Hof hinunterblickt, ist er verschwunden.
    Der Prophet erwacht zwischen seidenen Laken, mit schrecklichen Kopfschmerzen, in einem Zimmer, das er nie zuvor gesehen hat. Vor dem Fenster steht die Sonne fast in ihrem mörderischen Zenit, und von der Weiße hebt sich eine große Gestalt in einem schwarzen Mantel mit Kapuze ab, die leise mit kräftiger, tiefer Stimme singt. Das Lied ist dasjenige, das die Frauen von Jahilia im Chor singen, wenn sie die Männer trommelnd zum Krieg aufrufen.
    Rückt vor, und wir umarmen euch, umarmen euch, umarmen euch, rückt vor, und wir umarmen euch im weichen Licht.
    Flieht, und wir verlassen euch, verraten euch, verlassen euch, weicht zurück, und wir hassen euch und lieben euch nicht.
    Er erkennt Hinds Stimme, setzt sich auf und merkt, dass er unter dem sanften Laken nackt ist. Er ruft ihr zu: »Bin ich überfallen worden?« Hind wendet sich ihm zu und lächelt das Lächeln der Hind. »Überfallen?« ahmt sie nach und klatscht in die Hände, um das Frühstück kommen zu lassen. Lakaien treten ein, stellen ab, tragen auf, servieren ab, trippeln davon.
    Mahound wird in ein schwarzgoldenes Gewand geholfen; übertrieben wendet Hind die Augen von ihm ab. »Mein Kopf«, fragt er nochmals. »Habe ich einen Schlag bekommen?« Sie steht am Fenster, mit gesenktem Haupt, spielt die sittsame Frau. »Ach, Verkünder, Verkünder«, verspottet sie ihn. »Was für ein ungalanter Verkünder er doch ist. Könntet

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