Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche
die Zeit gekommen war, besser auf Aminat aufzupassen.
Sie war erst sieben Jahre alt, eine Erstklässlerin, aber im letzten Sommer war sie fast zehn Zentimeter gewachsen. Sie hatte lange Beine bekommen und sah aus wie ein Rehkitz. Die Knie waren knochig und zerkratzt. Irgendwas Hartes hatte sich in ihren Gesichtszügen festgesetzt, und wenn man in ihre Augen sah, konnte man Angst bekommen. Sie kniff die Augen oft zusammen. Ich ermahnte sie, es nicht zu tun, weil es Falten machte, die man nie wieder wegkriegte.
In diesen Wochen, während Sulfia bewegungslos im Bett lag, kam ich nicht dazu, Aminat so zu kontrollieren, wie es sich gehört hätte. Ich war damit beschäftigt, zwei Haushalte zu führen, Essen zu kochen und zu versuchen, es Sulfia einzuflößen. Ich lud Ärzte nach Hause ein, erst aus der Poliklinik, dann auch private, die ich aus eigener Tasche bezahlte. Einer sagte, Sulfia solle sich einen Ruck geben, ein anderer, es werde schon von alleine wieder gut, der dritte verschrieb Schröpfmassagen und Vitaminspritzen.
Sulfia beteiligte sich nicht an den Spekulationen. Sie sah aus dem Fenster oder döste, sie löste nicht einmal die Kreuzworträtsel, die ich neben ihrem Bett liegen ließ in der Hoffnung, damit ihre Lebenslust wachzukitzeln.
Sorgen machte ich mir nicht. Es war meines Wissens noch niemand daran gestorben, dass er zu lange im Bett gelegen hatte. Es war nur so, dass Aminat eines Tages nach Hause kam, die Tür öffnete, ihre Schulsachen hindurchwarf und wieder ging. Auf dem Fußabtreter lag nur ihr Schulranzen mit dem Rotkäppchen. Sie war weg, ohne einWort zu sagen. Da wurde mir bewusst, dass ich meine Enkelin vernachlässigt hatte und dass es schon wieder Sulfias Schuld war.
Ich begann sofort, alles wiedergutzumachen. Ich öffnete den Schulranzen und drehte ihn um. Auf den Boden fielen mehrere speckige Hefte, ein paar ungeschälte Sonnenblumenkerne und ein Sturzbach aus Zehn- und Fünfkopekenmünzen. Ich ordnete sie in Häufchen und zählte. Sieben Rubel 89 Kopeken, eine Menge Geld!
Mit einer düsteren Vorahnung nahm ich mir Aminats Schuljournal vor, in das sie ihre Hausaufgaben und ihre Lehrer Noten und Anmerkungen eintrugen. Ich hätte viel früher einen Blick hineinwerfen sollen. Aminat hatte sich seit Monaten keine Hausaufgaben notiert. Es gab unzählige Einträge mit roter Tinte: »Stört im Unterricht«, »Hausaufgaben nicht gemacht«, »Lesen zu Hause üben«, »Eltern werden zum Gespräch mit der Klassenlehrerin gebeten«, »Stört schon wieder im Unterricht«, »Aggressiv«, »Eltern dringend zum Gespräch«. So ging es Seite für Seite.
Nein, ich war nicht schockiert. Es passte schon. Wenn man ein Kind nicht hegte und pflegte, nicht erzog und zurechtwies, dann wurde eben Unkraut daraus. Dieses Kind war allein unterwegs, klaute sich irgendwo Münzen, und es war offenbar kein Zufall, dass auch aus Aminats Taschen neuerdings die Schalen der Sonnenblumenkerne herausfielen. Das bedeutete, dass sie zu den alten Frauen ging, die vor den Lebensmittelmärkten Kartoffeln aus dem eigenen Garten, Bärlauch und Maiglöckchen verkauften. Nur dort gab es die großen offenen Säcke mit den Kernen, und für zehn Kopeken füllten diese ungebildetenFrauen einen Becher ab und schüttelten den Inhalt in eine Tüte aus Zeitungspapier oder direkt in die Jackentasche des Käufers.
Kalganow hatte sich in früheren Jahren auch immer wieder Sonnenblumenkerne geleistet, eine Unsitte, die ich sofort unterbunden hatte. Nichts fand ich so bäuerlich, so unfein und unhygienisch wie die Unart, sich die ungeschälten Kerne in den Mund zu stecken und die Schalen dann auszuspucken, wie es alte Frauen taten, die vor Hauseingängen auf schiefen Bänken saßen und tratschten und den Boden zu ihren Füßen verunreinigten. Ich hatte sämtliche von Kalganows Hosentaschen umgestülpt auf der Suche nach einem Kern, der ihn hätte verraten können, und jetzt, so viele Jahre später, musste ich es auch bei meiner Enkelin tun. Solche Dinge durchgehen zu lassen war verhängnisvoll, das wusste ich als Pädagogin. Es war auch ein bisschen meine Schuld: Ich hatte mich zu sehr von Sulfia ablenken lassen.
Ich ging also zu Sulfia ins Schlafzimmer und riss ihr die Decke herunter, packte sie an den knochigen Schultern und schüttelte sie gut durch. Sulfia gab wimmernde Laute von sich, aber ihre Augen wurden wieder lebendig. »Aufstehen«, sagte ich. »Aufräumen.«
Ich ließ sie wieder los, nahm meine schöne neue Handtasche und ging
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