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Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche

Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche

Titel: Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alina Bronsky
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Ohr.
    Aminat schielte zu mir rüber und nickte erschrocken.
    »Und weißt du auch, warum sie so krank war? Weil du so ein ungezogenes Kind warst. Warst du doch, oder?«
    Aminat saß jetzt still auf dem Hocker. Ja, sie war ein schlimmes Kind gewesen, und das wusste sie genau. Sie hatte schon immer ein klares Bild von sich und der Welt gehabt.
    »Und du willst doch, dass die Mama wieder gesund wird?« fragte ich und schnitt eine weitere Strähne ab. Aminat bewegte die Augen, sie verfolgte den freien Fall ihrer Haare. Sie nickte, drehte den Kopf und stieß mit dem Ohr gegen die Scherenspitze.
    Ich nahm mein Taschentuch und wischte die Blutstropfen von der Klinge.
    »Dann musst du immer tun, was ich sage«, sagte ich und merkte, auf welch fruchtbaren Boden meine Worte fielen.
    Ich hatte es geschafft, ihren Widerstand zu brechen. Die Härte verschwand aus Aminats Gesichtszügen, sie blinzelte, verzog den Mund und begann lautlos zu weinen, während ich mit der Schere um sie herumlief und ihr die Haare immer weiter kürzte, auf wenige Zentimeter, damit sie wie ein sauberes, ordentliches Mädchen aussah.
    Streng genommen sah sie jetzt aus wie ein Junge, ein hübscher Junge mit sehr kurzen Haaren. Nachdem ich ihr erlaubt hatte aufzustehen, rannte Aminat in den Flur, um sich im großen Spiegel zu bestaunen. Sie blieb verdächtig lange dort, während ich ihre Haare zusammenfegte. Es war ein beachtlicher Berg glänzend schwarzer Strähnen. Ich konnte nicht widerstehen, nahm eine, wickelte sie in Zeitungspapier und legte sie in meine schöne Handtasche. Den Rest packte ich ebenfalls in einen Doppelbogen Zeitungspapier und trug ihn zum Müllabwurf. Dabei ging ich an Aminat vorbei, die immer noch vor dem Spiegel stand und sich offenbar nicht rühren konnte. Es musste Entsetzen sein, denn welches Mädchen wollte schon wie ein Junge aussehen? Aber ein bisschen Entsetzen konnte diesem Kind nicht schaden, fand ich.
    Ich irrte mich: Aminat war begeistert. Sie fand es toll, wie ein Junge auszusehen. Sie beschloss jetzt, einer zu werden. Wenn ich geahnt hätte, dass derHaarschnitt diese Wirkung haben würde, hätte ich es mir noch mal überlegt.
    Zum Überlegen blieb allerdings keine Zeit mehr. Ich musste mich jetzt um Aminats Arbeitsverhalten kümmern.
    Als Erstes besuchte ich ihre Klassenlehrerin. Sie war eine kleine, rundliche Person mit einer großen Brille und einem Haarknoten. Ich passte sie nach dem Unterricht ab und wartete im Flur, bis die Kinder den Klassensaal nacheinander verlassen hatten. Dabei konnte ich gut sehen, dass Aminat einen Jungen mit beiden Händen in den Rücken schubste, so heftig, dass er mit der Nase zwischen den Schulterblättern des Vordermanns landete. Sicher hatte der Junge angefangen.
    Aminat war so beschäftigt, dass sie mich nicht bemerkt hatte. Mir war das recht so. Ich wartete, bis der Pulk in Richtung Schulkantine abgezogen war, und betrat den Klassenraum. Ich trug eine schwarze, leicht glänzende Hose, die die gute Form meiner Beine betonte. Auf meinen Absätzen überragte ich die kleine Lehrerin deutlich, und sie sah erschrocken zu mir hoch, während sie weiter in den Heften wühlte.
    »Ich bin Aminat Kalganowas Großmutter«, sagte ich und lächelte herzlich. »Bitte erlauben Sie mir, Ihnen dieses kleine Präsent zu überreichen.«
    Ich legte eine Schachtel Schokoladenpralinen vor sie auf den Tisch. Ich hatte die Pralinen bei Sulfia gefunden: Sie bekam oft Geschenke von ihren Patienten, sodass man sich nur wundern konnte, wie diese kranken Leute an all die Schokoladentafeln und Cognacflaschen kamen, die gerade anfingen, aus den Geschäften zu verschwinden. Ich hatte mir eine mittelgroße Schachtel ausgesucht.Sulfia war noch nie auf die Idee gekommen, Aminats Lehrerin etwas zu schenken. Im Gegensatz zu mir wusste sie nicht, wie man ein gutes Verhältnis pflegte.
    Die Lehrerin sagte erst, sie könne sie nicht annehmen, danach sagte sie, es sei nicht nötig gewesen, schließlich bedankte sie sich und bedeckte die Pralinen mit den Heften, damit sie uns nicht weiter ablenkten.
    Wir setzten uns an einen Schülertisch. Die Lehrerin war eine unsichere Person. Sie sagte, sie habe die Klasse gerade von ihrer kranken Kollegin übernommen. Sie redete lange um den heißen Brei herum. Solche Frauen machten mich ungeduldig. Es dauerte Ewigkeiten, bis man brauchbaren Inhalt aus ihnen herausgekitzelt hatte. Die Pralinen hatten ihre Wirkung nicht verfehlt, die Lehrerin hatte jetzt Skrupel, zu einer Schimpftirade

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