Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche
alte und der junge Rosenbaum waren praktisch unverletzt, nur demAlten hatte ein Stück Mauer eine Delle in den Schädel geschlagen. Er war jetzt auch im Krankenhaus, auf Sulfias chirurgischer Station. Dort trafen sich offenbar immer alle. Bloß Sulfia selber war jetzt in der Gynäkologie.
Wenig später standen die beiden noch heilen Rosenbaums vor der Tür. Die alte Rosenbaum war ganz aufgelöst.
»Seien Sie nicht so traurig, meine Liebe«, sagte ich, als ich sie in die Wohnung ließ samt einem schweren Bündel, das sie wie ein Kriegsflüchtling bei sich trug.
»Mein Haus ist zerstört worden«, rief sie laut aus und zerrte an ihren Haaren, die auch so schon ziemlich unordentlich waren.
»Aber Ihre Knochen sind noch heil«, sagte ich.
»Mein Mann ist schwer verletzt worden«, schluchzte sie.
»Männer sind zäh«, versicherte ich ihr.
Die Frau war völlig durch den Wind. Sie war überhaupt eine zarte Natur – ich musste daran denken, wie schon mein erster Besuch bei ihr mit einem Krankenwagen geendet hatte. Immerhin hielt sie sich auf den Beinen. Sie sah aber aus wie eine Obdachlose, ich vermisste ein wenig Haltung und Stil. Der junge Rosenbaum stand hinter ihr und sah sich hilflos um.
»Wo ist Sulfia?« fragte er. Ich erklärte ihm, dass Sulfia in Gefahr war, das Kind zu verlieren, und zwar vor Sorge um ihn, Rosenbaum.
Rosenbaum setzte sich auf einen Küchenhocker und bedeckte sein Gesicht mit den Händen. Seine Mutter brach in noch lauteres Wehgeschrei aus. »Oh nein«, rief sie. »Nicht das auch noch! Die Welt geht unter!«
Ich konnte sie nur mit Mühe ertragen, zudem Aminat das alles auch nicht gut bekam. Sie wurde immer ganz komisch, wenn es Sulfia nicht gut ging.
»Bitte nehmen Sie Rücksicht auf das Kind«, sagte ich scharf.
»Diese Welt ist nicht gut für Kinder, nein, nicht gut für Kinder!« jammerte die alte Rosenbaum.
»EINEN TEE?« fragte ich mit donnernder Stimme.
»Ja, Mutter, reiß dich zusammen«, sagte Rosenbaum und nahm endlich die Hände weg vom Gesicht.
»Unser Haus ist zerstört worden!« schrie seine Mutter. Dann berichtete sie, wie sie in dieser Nacht aufgewacht war und das Gefühl hatte, das Ende der Welt stehe unmittelbar bevor. Wie die Wände um sie herum enger rückten, wie die Decke herunterfiel und Regale einstürzten, wie sie durch den Schutt kroch, um ins Nachbarzimmer zu gelangen, um ihr Kind zu retten.
»Dieses Kind da?« fragte ich und deutete auf den jungen Rosenbaum, der sich gerade aus der Schale mit den Mohnkringeln bediente.
»Ich hab kein anderes«, jammerte sie weiter.
»Seien Sie doch mal ruhig«, sagte ich. »Mein Kind ist eben mit Blaulicht ins Krankenhaus gefahren worden, während Ihr Kind munter Mohnkringel frisst.«
Die alte Rosenbaum verschluckte sich.
»Aber wo sollen wir jetzt leben?« fragte sie etwas ruhiger.
»Hier«, sagte ich mit einem Seufzer. Ich wusste, dass es in Sulfias Sinne war.
Die alte Rosenbaum sah sich aufmerksam um. Der Wahnsinn wich langsam aus ihren Augen.
»Die Wohnung ist schön groß«, sagte sie sachlich.
Ich passte auf, dass sie sich Aminats schönes Zimmer nicht unter den Nagel riss. Die alte Rosenbaum hatte nämlich in dem Moment, in dem ich ihr Sulfias Wohnung offiziell als Asyl angeboten hatte, ihren Schock überwunden und angefangen, sich einzuleben. Als Erstes packte sie das Bündel aus, das sie mitgebracht hatte. Darin befanden sich irgendwelche Lappen, die offenbar einmal ihre Kleider gewesen waren und die sie heldenhaft vor dem Weltuntergang gerettet hatte. Danach plätscherte sie lange in der Badewanne. Wahrscheinlich verbrauchte sie dabei das ganze Shampoo, das Sergej aus der DDR mitgebracht hatte und von dem nur noch sehr wenig übrig war. Eigentlich hatte ich es für Aminat aufbewahrt. Schließlich kam die alte Rosenbaum in Sulfias Bademantel heraus, mit nassen Haaren und rosigen Wangen, frisch wie eine Braut, und fragte geschäftig: »Und wo schlafe ich dann?«
Rosenbaum selbst hatte die ganze Zeit in der Küche gesessen und die Wand angestarrt. Wahrscheinlich sorgte er sich auf diese Weise um Sulfia und das Kind. Ich dachte, dass es in Sulfias Sinne wäre, wenn er im Schlafzimmer schlafen würde, schließlich war er ja Ehemann und Vater des ungeborenen Kindes.
Zu seiner Mutter sagte ich freundlich, aber bestimmt: »Im Wohnzimmer.«
Ja, sie war schon enttäuscht. Es war klar, dass sie auf Aminats Zimmer spekuliert hatte. Das hätte ich vermutlich auch getan, auch wenn ich keine Jüdin war. Ich war
Weitere Kostenlose Bücher