Die scharlachrote Spionin
die Wohlfahrt sind?«, fragte er, nachdem er die Tür geschlossen hatte.
»So könnte man es vermutlich nennen.«
Osborne verzog das Gesicht. »Und warum der Marquis anstelle deiner wahren Familie?«
»Ich hatte keine Ahnung, wer meine Mutter war. Nicht bis vor ein paar Tagen. Die einzige Familie, die ich jemals kannte, war eine alternde Hure in einem heruntergekommenen Freudenhaus in St. Giles«, erwiderte Sofia. »Die Frau hat mir erzählt, dass eines Abends ihre Schwester zu ihr gekommen sei, geschwächt von der Grippe und in den Armen ein geheimnisvolles Kind und ein Medaillon. Das war alles, was sie wusste. Diese Schwester starb, noch bevor der Morgen anbrach.«
Osbornes Miene wurde weicher, obwohl in seinem Blick immer noch das Misstrauen lauerte. »Ich verstehe nicht, was Lynsley damit zu tun hat. Warum sollte er sich mit dem Unterricht für Waisenkinder abgeben, wenn er doch tausend andere Pflichten zu erledigen hat?«
»Ja, ich begreife sehr gut, dass du es nicht verstehst. Er verliert auch kein Wort darüber.«
»Warum?« Verzweifelt rang er die Hände. »Ist das ein Staatsgeheimnis?«
Ein Lächeln schlich sich auf ihre Lippen. »In der Tat, das ist es.«
Als Sofia bemerkte, dass er kurz davor war, wieder wütend herauszuplatzen, fuhr sie rasch fort: »Mrs. Merlins Academy for Select Young Ladies liegt außerhalb Londons. Aber sie könnte auch genauso gut auf dem Mond liegen, so viel weiß die Öffentlichkeit über den Ort. Verstehst du? Es war kein Witz, als ich sagte, dass es sich um eine Unterrichtsanstalt für Spione handelt.«
»Zum Teufel noch mal, Sofia!«
»Halt! Hör mich an.«
Osborne biss die Zähne zusammen. »Sprich weiter.«
»Lord Lynsley gründete die Akademie, nachdem er das Buch über Hasan-I-Sabah gelesen hatte, so hat es unsere Direktorin erzählt. Hasan-I-Sabbah war ein Kalif, der in seiner Zitadelle in den Bergen eine geheime Kriegertruppe ausgebildet hat. Seine Männer waren für ihre tödlichen Kampfkünste und ihre fanatische Treue berüchtigt. Der Kalif hat sie nur in Zeiten höchster Gefahr eingesetzt. Die Legende behauptet, dass die Krieger niemals in einer Mission versagt haben. Schon die Erwähnung ihres Namens - Hashishim, Meuchelmörder - reichte aus, um bei seinen Feinden blankes Entsetzen auszulösen.«
»Meuchelmörder«, wiederholte Osborne fassungslos. »Du willst doch nicht etwa sagen, dass du ausgebildet wurdest ...«
»... um zu töten? Aber natürlich«, erwiderte Sofia ruhig. »Zugegeben - Blutvergießen ziehen wir nur als letzte Möglichkeit in Betracht.«
Man musste es ihm hoch anrechnen, dass er nicht zuckte. Trotzdem zog sich das Schweigen unangenehm in die Länge, bevor er fragte: »Wie hat der Marquis dich rekrutiert?«
»Meine Geschichte über die Waisenkinder war nicht gelogen.«
Osborne schien immer noch zwischen Zweifel und Vertrauen zu schwanken.
Sofia wünschte, die Einzelheiten vertuschen zu können. Aber Deverill Osborne hatte es verdient, alles über sie zu erfahren. Jedes Detail ihres Lebens, auf das sie nicht besonders stolz war.
»Lord Lynsleys Schülerinnen sind sozusagen handverlesen«, fuhr sie fort. »Er wählt sie unter den Waisenkindern aus, die herrenlos in den Armenvierteln herumstreunen. Ich habe gehört, dass er nach Mut und Klugheit Ausschau hält.« Es fiel Sofia nicht leicht, so leidenschaftslos über ihre Vergangenheit zu sprechen, aber sie zwang sich weiterzumachen. »Er hat beobachtet, wie ich einen Zuhälter in die Flucht geschlagen habe, der meine Freundin in seine Gewalt bringen wollte. Ein kleineres Mädchen, das noch nicht in der Lage war, sich allein durchzuschlagen. Offenbar war ich mit der Klinge schnell und geschickt genug, um ihm ein Auge zu nehmen.«
Osborne musterte sie durch die langen Wimpern. Die Sonne warf helle Schatten auf sein Gesicht, sodass man unmöglich erkennen konnte, was ihm durch den Kopf ging.
»Wie alt warst du?«
Sofia zuckte mit den Schultern. »Elf oder zwölf, ich weiß nicht genau.«
»Und was ist dann passiert?«
»Als wir in der Akademie eintrafen, hat Mrs. Merlin uns als Erstes vor einen großen, reich verzierten Globus in ihrem Büro geführt und uns unter den vielen tausend Städten auf der Oberfläche einen Namen aussuchen lassen. Einen neuen Namen für die neue Welt, in die wir eintreten sollten.« Sofia hielt einen Moment lang inne, erinnerte sich an ihren schmutzigen Finger, der über die lackierte Oberfläche fuhr. »Danach haben wir eine strenge Ausbildung
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