Die Schatten der Vergangenheit
Den Klamotten nach zu urteilen, hatten wir sie aus dem Schlaf gerissen. Doch verschlafen verhielten sie sich deswegen noch lange nicht. Auf der Herfahrt hatte ich vorgeschlagen, wir sollten uns heimlich ins Haus schleichen, aber Gabriel hatte diese Idee verworfen.Jetzt wurde mir klar, dass er recht gehabt hatte. Keine Chance bei diesem Hörvermögen.
»Wer, zum Teufel, seid ihr?«, wollte die Frau wissen.
Ich schätzte sie auf Ende zwanzig. Alles an ihr wirkte zart, angefangen von ihrem Knochenbau über ihre kleine Statur bis hin zu ihren blassen Augen. Diese fragil wirkende Person konnte mir jeden Knochen im Leib brechen und mir meine Energie rauben. Ich kämpfte gegen meine Angst an und verstärkte nochmals meine Mauern. Die Frau warf mir einen merkwürdigen Blick zu.
»Lottie Blackwell.« Ich tat mein Bestes, um Lotties Persönlichkeit gerecht zu werden. »Ihr habt meinen Bruder!« Ich ging drei Schritte auf sie zu und richtete die Waffe auf ihr Herz. »Seit wann nehmen wir unsere eigenen Leute gefangen?«
Der bärtige Mann machte Anstalten, mich anzugreifen, doch da hielt ihm Gabriel auch schon seine Waffe an die Schläfe. Das schien ihm weiter keine Sorgen zu machen, aber mir rutschte das Herz in die Hose, als ich mich daran erinnerte, wie locker Gabriel einst Asher in einem Kampf bezwungen hatte. Ich betete, dass Gabriel durch meine Nähe nicht zu sterblich geworden war. Wir brauchten seine Beschützerkraft hier mehr denn je, um unsere Story glaubhaft rüberzubringen.
»Krümm meiner Schwester auch nur ein Haar, und ich schieß dir eine Kugel in den Kopf. Davon erholst selbst du dich nicht!«, drohte Gabriel in einem Ton, bei dem ich Gänsehaut bekam. Er deutete auf den Glatzköpfigen, den er im Eingang niedergeschlagen hatte. »Du da! Hol Asher! Aber dalli!«
Der Beschützer rappelte sich hoch. Er tauschte einen Blick mit dem Bärtigen aus, an dessen Schläfe noch Gabriels Waffe klebte, und verschwand in die Diele.
Mir brach der Schweiß aus, und ich überprüfte meine Abwehr.Die Frau starrte mich mit ungerührtem Blick an, und ich erwiderte ihn mit künstlich zur Schau gestellter Courage. Gegen das hier war die Sache mit Dean ein Dreck gewesen. In ihren Augen waren Heilerinnen etwas, das man folterte, benutzte und aussaugte. Mich umzubringen, wäre für sie ein Kinderspiel, und ich konnte ihr kaum etwas entgegensetzen. Das Einzige, was sie zurückhielt, war ihr Glaube, dass ich war wie sie, weshalb meine Angst unter keinen Umständen Oberwasser gewinnen durfte. Für Asher musste ich stark sein. Er würde mich brauchen.
Die Muskeln der Frau traten hervor, und sie warf einen Blick zur Seite, warnte mich.
»Nur zu«, sagte ich mit ausdrucksloser Stimme, auf die ich stolz war. Sie erstarrte. »Ist dir eigentlich klar, wie sehr ich dich hasse? So, wie du mit den Heilern zusammenarbeitest, bist du eine Verräterin unserer Artgenossen!«
Der Bärtige stieß einen überraschten Laut aus, und Gabriel lachte. »Allerdings! Wir wissen alles über euch. Und da sind wir nicht die Einzigen. Habt ihr wirklich gedacht, ihr könntet euer kleines Abkommen geheim halten?« Er gab einen missbilligenden Laut von sich. »Weitere Leute von uns sind im Anmarsch. Jede Menge. Ihr werdet lernen müssen zu teilen!«
Ablenken und verwirren, hatte Gabriel als Motto dieses Plans genannt. Wir müssen ihre Gedanken auf etwas anderes lenken als auf uns.
»Wie habt ihr das herausgefunden?«, schrie der Mann. Spucke verfing sich in seinen Barthaaren, so wütend war er. Der Frau fuhr der Schreck in die Glieder und sie zog besorgt ihre Brauen zusammen.
»Na, das wäre doch mal eine Frage, die ihr euren Freunden stellen könntet!«, meinte ich.
»Was willst du damit …«
Der Glatzköpfige tauchte im Türrahmen auf. Alles in mir sehnte sich danach hinüberzusehen, ob er Asher mitgebracht hatte, aber ich durfte meinen Blick nicht von der Frau abwenden.
»Was habt ihr mit ihm gemacht?«
Angesichts des Entsetzens in Gabriels Stimme hätte ich beinahe die Beherrschung verloren. Eine Sekunde lang zitterte die Hand, in der ich die Waffe hielt, und das Gesicht der Frau leuchtete listig auf. Eine Sekunde der Unaufmerksamkeit und ich wäre verloren.
»Du trägst ihn jetzt zu unserem Wagen«, wies Gabriel jemanden an. Dann sagte er: »Lottie, komm rückwärts zu mir.«
Ohne mich umzudrehen, ging ich mehrere Schritte zurück, bis ich neben Gabriel stand. Er gab mir die Autoschlüssel.
»Du folgst ihr nach draußen«, befahl er dem Kerl
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