Die Schatten der Vergangenheit
Dann zögerte ich. Ich wagte es schließlich, seine Zimmertür zu öffnen, kam mir dabei aber wie eine Verräterin vor, die widerrechtlich in seine Gemächer eindrang.
Ich bin mir nicht sicher, was ich darin vorzufinden glaubte. Mein Großvater war ein ordentlicher Mensch, und sein Zimmer spiegelte das wider. Das Bett war gemacht, und seine Kleidungsstücke waren alle weggeräumt worden. Auch Staub gesaugt hatte er kürzlich, wie man an den ordentlich nebeneinander verlaufenden Staubsaugerspuren auf dem Teppich erkennen konnte.
Sein Kleiderschrank und seine Kommode waren verschlossen, und ich konnte mich nicht überwinden, seine Sachen zu durchwühlen. Ich verweilte in der Zimmermitte und wusste nicht, was ich tun sollte. Das Telefon auf seinem Nachttisch klingelte, und ich bekam einen Heidenschreck. Als hätte man mich beim Herumschnüffeln erwischt, ging ich rückwärts aus dem Zimmer und galoppierte förmlich in die Küche hinunter. Im Wohnzimmer schaltete sich klickend ein Anrufbeantworter ein. Doch der Anrufer hatte beschlossen, keine Nachricht zu hinterlassen.
Die Stille drohte mich zu überwältigen, und ich hielt esnicht mehr aus. Mein Großvater hatte mich gebeten, mich nicht allzu weit vom Haus zu entfernen. Ich fand, den Wald könne man noch als nahe bezeichnen. Ich zog mir eine Jacke über, sperrte die Haustür ab und machte mich nach dorthin auf.
Die Sonne schien durch die Bäume, ausnahmsweise bedeckte kein Nebel ihre Wipfel, und nur ein paar Schäfchenwolken trieben über den blauen Himmel. In der Ferne waren Wanderer unterwegs, ihre Rufe hallten von den Hügeln wider. Mein Großvater hatte erwähnt, wie beliebt die Wanderwege hier in der Gegend waren, und nun verstand ich, wieso. Auch wenn ich mich nicht so gehen lassen und losstürmen konnte, wie ich wollte, fühlte ich mich schon besser.
Ich war froh, dass ich mich zusammengerissen hatte, als ein Mann mit seinem Labradoodle an mir vorbeirannte. Dem Hund hing seitlich die Zunge heraus, und bei jedem Schritt tropfte ihm der Geifer aus dem Maul. Mit seinen unbeholfenen Bewegungen wirkte er wie die reinste Cartoonfigur.
Ich beschloss, den beiden zu folgen, um zu sehen, wohin der Weg führte. Wir hatten rund eine Meile zurückgelegt – der Weg schlängelte sich durch den Wald empor und erstreckte sich dann über eine offene Wiese –, als wir zu ein paar Stufen, die in den Hügel gebaut waren, gelangten. Oben angekommen landeten wir auf einem Parkplatz voller Autos, darunter zwei Touristenbusse. Der Mann joggte nach links in Richtung Straße weiter, ich aber folgte den Touristen nach rechts.
Kurze Zeit darauf kam ich an einen Aussichtspunkt, von dem aus man einen herrlichen Blick auf die Bucht hatte. Überall standen Bänke, die zum Genießen der Aussicht einluden. Die Leute standen Schlange, um Fotos zu machen, auf denen sie dem blauen Wasser den Rücken zudrehten undbeiderseits vom Wald des Presidios eingerahmt wurden. Das erinnerte mich so sehr an daheim, dass ich beschloss, hier eine kleine Pause einzulegen.
Ein Betonsims umgab den Aussichtspunkt, und ich setzte mich darauf und stützte das Kinn auf die Knie. Wie in Blackwell Falls konnte ich weit draußen Boote erkennen, die mit geblähten Segeln in der Bucht kreuzten. In diesem Moment wünschte ich mir nichts sehnlicher, als zurück nach Hause zu können.
Nach einer Weile stiegen die Touristen wieder in ihre Busse, und es blieben nur ein paar Leute zurück, die ein Stück weit von mir entfernt auf den Bänken herumlümmelten. Ich verspürte einen Luftzug, und jemand setzte sich neben mich. Asher. Ich war mir nicht sicher, ob ich bereit war, ihn zu sehen. Lange Zeit saßen wir nebeneinander, ohne uns zu berühren. Unterdessen überlegte ich krampfhaft, wie ich ihm erzählen konnte, was vorgefallen war.
Ich drehte mich zu ihm, die Wange noch immer auf dem Knie. Der Wind zerzauste ihm das Haar, bis es ihm wild vom Kopf abstand.
»Hi.«
»Hi. Ich hab dich gestern Abend vermisst.«
Als er den vergangenen Abend erwähnte, stürmten Dutzende von Bildern auf mich ein. Wie ich Chrissy geheilt hatte. Wie die alarmierende Nachricht, die Beschützer seien in der Stadt, die Runde gemacht hatte. Asher griff gerade nach mir, als ich die ermordete Yvette vor meinem geistigen Auge auf ihrem Küchenboden liegen sah. Ich riss mich von ihm los, doch da hatte er schon einen Blick auf meine Gedanken erhascht.
»Was ist passiert?«, fragte er schockiert.
Ich schüttelte den Kopf und starrte auf seinen
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