Die Schatten der Vergangenheit
Hals, weilich es einfach nicht fertigbrachte, ihm direkt in die Augen zu sehen.
»Remy?«
Wieder wollte er mich berühren und wieder wich ich zurück. Ich wollte nicht, dass er mitbekam, was ich gedacht hatte, dass ich ihn mit jenem anderen Beschützer verglichen hatte. Ich wollte nicht, dass er wusste, dass mir der Gedanke immer noch im Kopf herumspukte.
Seine Hand verweilte mitten in der Luft und auf seinem Gesicht machte sich Verwirrung breit. »Ich mache mir Sorgen, mo cridhe. Was ist gestern Abend passiert?«
»Eine Frau ist ums Leben gekommen, Asher. Eine andere Heilerin.«
Meine Stimme klang hohl.
»Wie?«, fragte er leise.
»Durch einen Beschützer.«
Asher fluchte. Zumindest glaubte ich, dass er das tat. Er hatte ins Französische gewechselt, seine Lieblingssprache fürs Fluchen. Er blickte verstohlen auf die Menschen um uns herum, aber keiner war nahe genug, um uns belauschen zu können.
»Warst du in Gefahr?«
»Nein. Sie war Krankenschwester, hat jemanden mit ihren Methoden geheilt und das hat sich herumgesprochen. Wer immer der Beschützer war, er wusste nichts von den anderen Heilerinnen. Zumindest denkt mein Großvater das.« Wieder sah ich Yvette vor mir, und meine Augen brannten. »Es war schrecklich. Was er ihr angetan hat. Er …«
Ich verstummte, schüttelte den Kopf, da mir die Worte fehlten. Um es hinter mich zu bringen, stellte ich mir Yvette vor, wie sie dagelegen war, mit leerem Blick und blutüberströmt. Ich tippte auf seine Hand, sodass er einen kurzenBlick auf das Bild werfen konnte, ehe ich meine Hand wieder wegnahm.
»Du fürchtest dich vor mir«, sagte er mit rauer Stimme.
Ich war nicht schnell genug gewesen, und Asher hatte mehr mitbekommen als gewünscht. Er klang völlig deprimiert. Ich hasste mich dafür, dass ich ihm das antat, aber ich brachte es nicht über mich, ihn zu umarmen oder trostsuchend seine Hand zu nehmen. Er würde wissen, dass ich in der Nacht immer wieder davon geträumt hatte, wie er Elizabeth tötete. Nur, dass Elizabeth in meinen Träumen wie Yvette ausgesehen hatte.
Folglich leugnete ich es. »Gar nicht wahr!«
Er lachte, aber ganz ohne Fröhlichkeit. »Schön wär’s!«
»Furcht ist es nicht«, protestierte ich. »Nicht vor dir zumindest. Ich hätte mir nur nie vorgestellt, wie schrecklich es sein würde. Du hast es mir erzählt, aber ich hab’s nicht kapiert.«
»Wie denn auch!«
»Asher, er hat sie gefoltert. Er hat ihr Schnittwunden am ganzen Körper zugefügt, um sie zu zwingen, sich seinen Wünschen zu beugen. Wie kann man zu so einem Monster werden?«
»Einem Monster wie mir, meinst du?«, fragte er bitter.
»Unsinn! Ich weiß, dass du nicht so bist!«
Ehe ich ihn daran hindern konnte, hatte er meine Hand genommen. Seine Finger umfassten sie zärtlich, hielten sie nicht wie die einer Gefangenen. Ich versuchte an uns so zu denken, wie wir im Wald gewesen waren, glücklich und voller Hoffnung. Falls er mich testen wollte, so versagte ich. Was immer er in meinem Kopf sah, es schien ihn furchtbar traurig zu machen. Er ließ meine Hand wieder los und stand dann auf.
»Na, komm«, meinte er. »Lass uns gehen.«
Der Weg zurück war eine Qual. Wo mich die Landschaft zuvor bezaubert hatte, marschierte ich nun blind dahin und zerbrach mir den Kopf, wie ich das alles wieder in Ordnung bringen konnte. Noch nie hatte ich unseren Bund so sehr gehasst, wie ich es in diesem Augenblick tat, weil es ihm gestattete zu sehen, was ich verbergen wollte.
Am Waldrand nahe beim Haus meines Großvaters blieben wir stehen, und ich drehte mich zu Asher. Ich hätte ihn umarmt, aber er wich zurück und vergrub die Hände in den Hosentaschen. Ich wünschte, ich könnte die letzte Stunde ungeschehen machen.
»Bitte geh nicht«, bat ich. »Nicht so!«
Sein Lächeln erreichte seine Augen nicht. »Ich bin in der Nähe, wenn du mich brauchst, das schwöre ich, aber ich glaube, dass es für dich vielleicht einfacher ist, dir über deine Gefühle klar zu werden, wenn du mich nicht um dich hast.«
Er meinte, über meine Gefühle für ihn, aber über die war ich mir im Klaren. Ich liebte ihn. Wieso aber ging Yvette mir einfach nicht aus dem Kopf? Wieso konnte ich nicht aufhören mir vorzustellen, wie Yvette gestorben war?
In der Ferne dröhnte ein Truckmotor. Mein Großvater war nach Hause gekommen.
Der Wind peitschte mir eine Haarsträhne aus dem Pferdeschwanz, und Asher fing sie auf und stecke sie mir hinters Ohr. Mit einem schmerzlichen Stich bemerkte ich,
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