Die Schatten schlafen nur
Vandalismus zu tun hatte. Oder? Ein Mord, der zehn Jahre zurücklag.
Bizarr war nicht nur die Leiche, bizarr war auch das, was Henry machte. Wieso hatte er sich gestern bloß so schnell von Walters Enthusiasmus anstecken lassen? Wurde er langsam ein bisschen wunderlich, spleenig? Dieser Beruf veränderte einen. Es gab genug ältere Kollegen, die der Welt nur noch mit Zynismus gegenübertraten. Und sie wussten es nicht einmal.
Nun ja, zumindest war der Versuch einer Rekonstruktion des Gesichtes spannender als das, was in den nächsten Tagen Routine sein würde: Vermisstenlisten heraussuchen und überprüfen, Fotos anschauen, mit Leuten reden. Vielleicht war van Gemmern erfolgreich und fand noch mehr als nur den hellblauen Hemdknopf, und man konnte den Toten über seine Kleidung identifizieren. Wenn die denn bei der Vermisstenmeldung angegeben worden war Sollten sie den Toten tatsächlich identifizieren, blieb immer noch die zentrale Frage: Wer hatte den Mann mit einem aufgesetzten Genickschuss getötet, ihn gewissermaßen hingerichtet? Warum richtete man einen Menschen hin? Wer richtete einen Menschen hin?
Und wo war es passiert? Nicht an der Fundstelle, das wussten sie.
In der Nähe? In Nierswalde? Diesem Dorf, in dem die Siedler auf Gedeih und Verderb zusammenhielten. Aus Not und Tod zu Heim und Brot …
Empfand man das heute noch so?
Der Mann hatte unmittelbar unter dem Fundament des Spielhauses gelegen. Wann war das Haus gebaut worden? Wer genau war am Bau beteiligt gewesen?
Sie würden nicht nur die Vermisstenlisten überprüfen, sie würden auch mit den älteren Dorfbewohnern sprechen müssen, mit denen, die gesiedelt hatten, die sich alle noch kannten.
Von Bahlow war kein schlechter Anfang. Einer der ersten Siedler, der Mann, der anscheinend den Bürgerprotest organisiert hatte. Wie ging so etwas eigentlich zusammen mit dem Motto: Aus Not und Tod …?
Er würde es herausfinden.
Toppe stand auf, kletterte zum Ufer zurück und sammelte ein paar flache Steine. Er bückte sich leicht und fitschte den ersten übers Wasser.
»Achtmal, gar nicht schlecht«, sagte jemand hinter ihm.
Es war ein Pärchen, jung noch, vielleicht siebzehn.
»Ja.« Toppe lächelte und drückte dem Jungen die restlichen Steine in die Hand. »Ja, finde ich eigentlich auch.«
14
Bei der Frühbesprechung am Montag ging es ihm besser und auch die anderen waren ausgeruht. Jeder hatte sich anscheinend übers Wochenende so seine Gedanken gemacht.
»Ich glaube schon, dass die Vandalen aus dem Dorf kommen«, meinte Astrid. »Warum sonst sollten uns alle vormachen, dass sie nie etwas gesehen oder gehört haben? Die decken sich doch gegenseitig.«
»Wieso seid ihr denn so sicher, dass die Leute lügen?«, fragte Cox.
Toppe zögerte. »Intuition«, antwortete er dann. »Gefühl, Erfahrung. Nenn es, wie du willst.«
Cox rümpfte die Nase, sagte aber nichts.
»Schlüters Wachmann scheint es jedenfalls zu bringen.« Van Appeldorn saß breitbeinig auf dem Stuhl und fühlte sich sichtlich wohl. »Am Wochenende ist auf der Baustelle alles ruhig geblieben. Was hast du jetzt vor, Helmut?«
Toppe schob einen Aktenstapel zur Seite und setzte sich auf die Fensterbank. »Bevor wir uns in größere Aktionen stürzen, würde ich gern mal mit diesem alten von Bahlow sprechen.«
»Ja, der interessiert mich auch.« Astrid drückte ihre Zigarette aus. »Ich fahre mit.«
»Na, na.« Van Appeldorn drohte ihr mit dem Zeigefinger. »Kommt da etwa wieder die alte Yoko zum Vorschein? Du bleibst schön bei mir, sonst muss ich das der bösen Tante sagen.«
Astrid tippte sich an die Stirn. »Manchmal hab ich richtig Sehnsucht nach deiner schlechten Laune.«
Cox sah so verwirrt aus, dass Toppe sein Lachen lieber herunterschluckte. »Kommen wir zu unserem geheimnisvollen Toten. Ich muss euch da gleich noch was beichten. Bonhoeffers detaillierten Bericht kriegen wir morgen erst, aber wir haben die groben Daten. Hat sich van Gemmern gemeldet?«
»Bei mir«, antwortete Cox. »Ich war noch nicht ganz durch die Tür, da rief er schon an. Hat dieser Mensch eigentlich kein Zuhause? Na, egal, irgendwann werde ich den Betrieb hier hoffentlich durchschauen. Van Gemmern redet zwar immer ein bisschen seltsam, aber ich habe verstanden, dass er mit dem Durchsieben der Erde am Leichenfundort fertig ist und dass er bis auf zwei weitere hellblaue Plastikknöpfe und eine Metallschließe, die von einem Hosenbund stammen könnte, nichts gefunden hat.«
»Schade …« Toppe
Weitere Kostenlose Bücher