Die Schattenflotte
Sören stand auf und suchte fieberhaft nach einem Stadtplan, den er schließlich in einer der Schubladen der Anrichte fand.
«Was ist? Was hast du?», fragte Martin und stellte sich neben Sören, der mit dem Finger die Straßenzüge auf dem Plan nachzeichnete.
«Ich Idiot», sagte Sören nur, und schlug sich mehrfach mit der flachen Hand gegen die Stirn. «Ich verdammter Idiot.» Auf einmal wurden die Schriftzeichen von Otte verständlich. Es waren Straßennamen, die Sören auf dem Plan ablesen konnte. Und es waren genau die Straßen aufgeführt, die rund um den Hof lagen, in dem Simon Levi erschlagen worden war. Eine Gegend, wo ein Straßenzug immer noch mehrere Namen haben konnte, einen auf der Hamburger und einen anderen auf der Altonaer Seite. Das war es gewesen, was Sören gestört hatte, als er mit Schmidlein vor Ort gewesen war, als er die Schmuckstraße in Richtung Große Freiheit entlanggeschaut hatte. Ab der ehemaligen Grenze hieß die Schmuckstraße Friedrichstraße. Langsam fügten sich die Puzzlesteine zusammen.
«Ich muss dringend mit Völsch sprechen. Diese vermaledeite Razzia … Das Haus, das man durchsucht hat … Wenn es in der Friedrichstraße liegt, dann wird mir einiges klar.»
«Und ich verstehe überhaupt nichts mehr», erklärte Martin und schüttelte verständnislos den Kopf.
«Ich habe mich die ganze Zeit über gefragt, ob es einen Zusammenhang gibt, einen Zusammenhang zwischen dem, was David widerfahren ist, also dem Verbrechen, das in der Silvesternacht auf St. Pauli geschah, und den Umständen, die zum Mord an Waldemar Otte geführt haben. Die Verbindung der Geschehnisse war bislang nur darin zu sehen, dass Otte der Zeuge war, aufgrund dessenAussage David verhaftet wurde. Wir haben aber der Frage, was Otte dort gesucht hat und was Simon Levi dort verloren hatte, bislang zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Es gibt nämlich ein weiteres verbindendes Glied. Und wenn ich mich nicht täusche, dann laufen dort alle Fäden zusammen: in der Friedrichstraße oder, besser gesagt, in der Schmuckstraße.»
«Ich kann dir immer noch nicht folgen.»
«Ganz einfach. Levi gehörte wahrscheinlich zu einer ganzen Gruppe von Männern, die man aus der Auswandererstadt herausgeschleust hat, damit sie sich auf St. Pauli amüsieren können. Für das Gelingen hat man einige Kollegen von Völsch bestochen. Entscheidend ist aber, dass zudem auch Beamte der Hamburg-Amerika Linie eingeweiht gewesen sein müssen. Ich nehme sogar an, dass unter ihnen die Drahtzieher zu finden sind und dass man die Auswanderer gezielt in ein bestimmtes Etablissement gebracht hat. Wenn es so ist, wie ich vermute, betreibt man vielleicht sogar selbst eine solche Lokalität, speziell für Personen aus dem geschäftlichen Umfeld der Reederei. Auch Waldemar Otte, der ebenfalls in geschäftlichem Kontakt mit der Hapag stand, hatte eine Wegbeschreibung bei sich, die in genau diese Gegend führt. Ob es sich um die gleiche Straße handelt, werde ich in wenigen Minuten wissen.»
Sören ging zum Fernsprecher und ließ sich mit der Polizeistation in der Auswandererstadt verbinden. Er hatte Glück. Nach wenigen Minuten hatte er Polizeileutnant Völsch am Apparat, und sein Gesichtsausdruck erhellte sich, als er die Adresse erfuhr, wo die Razzia stattgefunden hatte. «Ja, wir waren auf der richtigen Spur», bestätigte Sören, während er weiter in die Sprechmuschel lauschte.
«Nein, ich denke, ich habe des Rätsels Lösung. In dem Haus konnte die Polizei gar nichts finden, es erfüllt eine ganz andere Funktion … Ja, ich halte Sie auf dem Laufenden. Vielen Dank.»
Sören hängte den Hörer auf die Gabel und wandte sich Martin zu. «Es ist genau so, wie ich angenommen habe. Das Haus, das man durchsucht hat, steht in der Friedrichstraße. Direkt an der Grenze zwischen Hamburg und Altona.»
«Aber man hat dort bei der Razzia nichts finden können.»
Sören nickte. «Ja, weil man nach der falschen Sache gesucht hat, nach einer Gruppe von Personen, die sich verbotenen Dingen hingibt, Hasardspiel, Prostitution, was weiß ich. Das dortige Haus ist ein ganz gewöhnliches Mietshaus. Nun, ganz gewöhnlich nicht. Zumindest einige der dortigen Bewohner müssen Kenntnis davon haben, welchen Zweck es erfüllt.»
«Du sprichst immer noch in Rätseln.» Martin verzog hilflos das Gesicht.
«Als ich mit Willi Schmidlein vor Ort war», erklärte Sören, «sind uns ein paar Ungereimtheiten aufgefallen. Auf dem Hof an der Schmuckstraße,
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