Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Schattenhand

Die Schattenhand

Titel: Die Schattenhand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agatha Christie
Vom Netzwerk:
aber ich bleibe. Ich bleibe, und es wird ihnen allen noch Leid tun. Allen wird es Leid tun. Diese Schweine! Ich hasse alle hier in Lymstock. Sie denken, ich bin dumm und hässlich, aber ich zeig’s ihnen, ich zeig’s ihnen, ich…»
    Es war ein kindischer, seltsam jämmerlicher Zorn.
    Schritte knirschten auf dem Kies hinter der Hausecke.
    «Steh auf», zischte ich. «Geh rein, gleich hier, durchs Wohnzimmer. Geh rauf ins Badezimmer. Einfach den Gang entlang. Wasch dir das Gesicht. Schnell.»
    Sie sprang ungeschickt auf und flüchtete durch die Verandatür, gerade rechtzeitig, bevor Joanna um die Ecke bog.
    «Puh, ist mir heiß», rief sie. Sie ließ sich neben mich fallen und fächelte sich das Gesicht mit dem Tirolertüchlein, das sie um den Hals getragen hatte. «Immerhin, so langsam fangen diese verdammten Schuhe an zu parieren. Ich bin Meilen gelaufen. Eins hab ich schon mal gelernt, diese Zierlöcher sind ein großer Fehler. Da sticht der Ginster durch. Weißt du was, Jerry, ich finde, wir sollten uns einen Hund anschaffen.»
    «Finde ich auch», sagte ich. «Übrigens, Megan isst mit uns zu Mittag.»
    «Ach ja? Gut.»
    «Du magst sie?», fragte ich.
    «Ich halte sie für einen Wechselbalg», sagte Joanna. «Die Elfen haben sie auf der Türschwelle zurückgelassen und das richtige Kind mitgenommen. Es ist hochinteressant, einen Wechselbalg kennen zu lernen. Uff, ich muss raufgehen und mich waschen.»
    «Du kannst noch nicht ins Bad», sagte ich. «Da ist gerade Megan drin.»
    «Wieso, hat sie auch einen Gewaltmarsch hinter sich?»
    Joanna holte ihren Spiegel heraus und unterzog ihr Gesicht einer langen, ernsten Prüfung. «Irgendwie gefällt mir dieser Lippenstift nicht», verkündete sie.
    Megan kam durch die Verandatür. Sie war gefasst, mäßig sauber, und von dem Ausbruch eben war ihr nichts mehr anzumerken. Unsicher sah sie zu Joanna hin.
    «Hallo», sagte Joanna, immer noch in ihr Gesicht vertieft. «Wie schön, dass du mit uns isst. Ach du Schreck, ich habe eine Sommersprosse auf der Nase. Dagegen muss etwas unternommen werden. Sommersprossen sind so humorlos und schottisch.»
    Partridge erschien und eröffnete uns kalt, dass das Essen aufgetragen sei.
    «Dann mal los», sagte Joanna und stand auf. «Ich hab einen Bärenhunger.»
    Sie hakte Megan unter, und sie gingen zusammen hinein.

Fünftes Kapitel
    I
     
    I ch sehe, dass in meiner Geschichte eine Lücke klafft. Bis jetzt war nicht oder doch kaum die Rede von Mrs Dane Calthrop und ihrem Mann, Reverend Caleb Dane Calthrop.
    Dabei waren sowohl der Pfarrer als auch seine Frau sehr ausgeprägte Persönlichkeiten. Dane Calthrop selbst war der Alltagswelt in einem Maße entrückt, wie ich es wohl noch nie bei einem Menschen erlebt habe. Er gehörte ganz seinen Büchern, seinen Studien und seinen profunden Kenntnissen über die Alte Kirche. Mrs Dane Calthrop dagegen war fast erschreckend präsent. Mag sein, dass ich es vorsätzlich hinausgezögert habe, sie zu erwähnen, denn sie hatte etwas Beängstigendes an sich. Sie war eine Frau von Charakter und geradezu olympischem Wissen und entsprach in keiner Weise dem gängigen Bild der Pfarrersfrau – aber während ich dies schreibe, muss ich mich fragen: Was weiß ich überhaupt von Pfarrersfrauen?
    Die Einzige, an die ich mich deutlich erinnere, war ein verhuschtes, unscheinbares Geschöpf, Anhängsel eines großen starken Ehemannes, der mitreißende Predigten hielt. Sie hatte so wenige andere Interessen, dass es geradezu eine Kunst war, sich mit ihr zu unterhalten.
    Ansonsten kannte ich Pfarrersfrauen nur aus Romanen – Zerrbilder von Frauen, die überall ihre Nase hineinsteckten und sich in Plattitüden ergingen. Wahrscheinlich existiert dieser Typus in Wirklichkeit gar nicht.
    Mrs Dane Calthrop steckte nirgends ihre Nase hinein, aber sie war von beunruhigender Hellsichtigkeit, und ich merkte bald, dass fast alle im Dorf sich ein wenig vor ihr fürchteten. Sie erteilte keine guten Ratschläge, sie mischte sich nicht ein, und doch musste sie einer schuldgeplagten Seele als die Verkörperung der Gottheit persönlich erscheinen.
    Ich habe nie eine Frau gekannt, die sich so wenig um ihre materielle Umgebung scherte. An heißen Tagen sah man sie in Harris-Tweed, bei Regen oder sogar Schneeregen fegte sie, nichts als ein mohnblumenbedrucktes Baumwollkleid am Leib, mit abwesendem Blick die Dorfstraße entlang. Ihr Gesicht war lang und dünn und vornehm wie das eines Windspiels, ihre Art zu reden verheerend

Weitere Kostenlose Bücher