Die Schattenhand
ich für äußerst wahrscheinlich. Ich sah Elsie Holland vor mir, wie sie Binsenweisheit um Binsenweisheit äußerte und zahllose Tassen Tee kredenzte. Herzensgut, aber nicht unbedingt die richtige Gesellschaft für ein sensibles Mädchen.
Ich hatte selbst schon daran gedacht, Megan zu uns zu holen, und war froh, dass Joanna darauf gekommen war, ohne dass ich hatte nachhelfen müssen.
Nach dem Frühstück machten wir uns auf den Weg zum Haus der Symmingtons.
Wir waren ein bisschen nervös, alle beide. Der Besuch konnte uns leicht als schiere Sensationsgier ausgelegt werden. Zum Glück kam uns am Tor Owen Griffith entgegen. Er sah besorgt und gedankenverloren aus.
Dennoch begrüßte er mich herzlich.
«Ah, hallo, Burton. Schön, Sie zu sehen. Jetzt ist passiert, was früher oder später passieren musste. Scheußliche Sache!»
«Guten Morgen, Dr. Griffith», sagte Joanna mit einer Stimme, die normalerweise einer tauben alten Tante von uns vorbehalten bleibt.
Griffith fuhr zusammen und wurde rot.
«Oh – oh, guten Morgen, Miss Burton.»
«Ich dachte schon», sagte Joanna, «Sie hätten mich vielleicht nicht gesehen.»
Owen Griffith errötete noch heftiger. Seine Schüchternheit hüllte ihn ein wie ein Umhang.
«Ich bin – es tut mir sehr Leid, meine Gedanken – ich hab nicht…»
Joanna kannte kein Erbarmen: «So klein bin ich auch wieder nicht.»
«Nur im Geiste», murmelte ich streng. Dann sagte ich zu Griffith: «Wir haben uns gefragt, ob es nicht vielleicht gut wäre, wenn das Mädchen für ein, zwei Tage zu uns käme? Was meinen Sie? Ich will mich nicht aufdrängen, aber es muss ziemlich hart sein für das arme Kind. Was, glauben Sie, würde Symmington dazu sagen?»
Griffith ließ sich den Vorschlag einen Moment lang durch den Kopf gehen.
«Ich glaube, das ist eine ganz ausgezeichnete Idee», sagte er dann. «Sie ist ein merkwürdiges Kind, sehr erregbar, und es täte ihr gut, ein bisschen Abstand zu gewinnen. Miss Holland vollbringt wahre Wunder – sie kümmert sich großartig um alles, aber sie hat schon alle Hände voll mit den beiden Kleinen und mit Symmington. Er ist völlig gebrochen – durcheinander.»
«Es war…», ich zögerte,«… Selbstmord?»
Griffith nickte.
«Ja. Ein Unfall ist ausgeschlossen. Auf einem Fetzen Papier stand: ‹Ich kann nicht mehr.› Der Brief muss gestern mit der Nachmittagspost gekommen sein. Der Umschlag lag auf dem Boden neben ihrem Sessel, und der Brief selbst lag zusammengeknüllt im Kamin.»
«Was…»
Ich brach ab, entsetzt über mich selbst.
Griffith lächelte ein kurzes, unfrohes Lächeln.
«Sie können ruhig fragen. Der Brief wird bei der Untersuchung sowieso vorgelegt werden. Da führt kein Weg dran vorbei, leider Gottes. Es war das Übliche – die gleichen obszönen Formulierungen wie immer. Die spezielle Anschuldigung gegen sie lautete, der zweite Junge, Colin, sei nicht Symmingtons Kind.»
«Halten Sie das für wahr?», fragte ich ungläubig.
Griffith hob die Schultern.
«Darüber kann ich mir kein Urteil anmaßen. Ich bin erst seit fünf Jahren hier. Ich kenne die Symmingtons nur als ein friedliches, glückliches Paar, dem seine Kinder über alles gingen. Gut, der Junge sieht seinen Eltern nicht besonders ähnlich – schon allein durch die feuerroten Haare –, aber Kinder kommen aussehensmäßig ja oft nach einem Großelternteil.»
«Trotzdem, die mangelnde Ähnlichkeit wird wohl der Anlass gewesen sein. Ein gemeiner, durch nichts gerechtfertigter Schuss ins Ungewisse.»
«Gut möglich. Äußerst wahrscheinlich sogar. Hinter all diesen Briefen steckt ja weniger konkretes Wissen als Bosheit und Gehässigkeit.»
«Die hier zufällig ins Schwarze getroffen haben», vollendete Joanna. «Sonst hätte sie sich kaum umgebracht, oder?»
«Ich weiß nicht», sagte Griffith zweifelnd. «Sie war in letzter Zeit sehr schlecht beieinander, neurotisch, hysterisch. Ich habe sie wegen eines Nervenleidens behandelt. Es würde mich nicht wundern, wenn die Unterstellung und die Ausdrucksweise sie derart schockiert hätten, dass sie in einem Anfall von Panik und Verzweiflung beschlossen hat, sich das Leben zu nehmen. Vielleicht hat sie sich so hineingesteigert, dass sie sich nicht mehr vorstellen konnte, dass ihr Mann ihren Beteuerungen glauben würde, und Scham und Abscheu haben ihr Urteilsvermögen vorübergehend außer Kraft gesetzt.»
«Selbstmord im Zustand der Unzurechnungsfähigkeit», sagte Joanna.
«Genau. Ich denke, diesen Standpunkt kann
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