Die Schattenhand
direkt.
Sie hielt mich auf der High Street an, einen Tag nach unserem Mittagessen mit Megan.
Wie immer war ich überrascht, denn Mrs Cane Calthrop stürmte mehr dahin, als dass sie ging, und ihr Blick war unweigerlich auf den fernen Horizont gerichtet, sodass man das Gefühl hatte, ihr wahres Ziel liege mindestens anderthalb Meilen entfernt.
«Ah», rief sie, «Mr Burton!»
Sie sagte es mit Triumph in der Stimme, als hätte sie ein besonders schwieriges Rätsel gelöst.
Ich bekannte, dass ich Mr Burton war, und Mrs Dane Calthrop holte ihren Blick aus der Ferne ein und versuchte ihn auf mich zu konzentrieren.
«Mr Burton», wiederholte sie. «Weswegen wollte ich Sie gleich wieder sprechen?»
Da konnte ich ihr auch nicht weiterhelfen. Stirnrunzelnd stand sie da und grübelte.
«Es war irgendetwas Ungutes», sagte sie.
«Das wäre mir aber arg», sagte ich bestürzt.
«Arg», rief Mrs Dane Calthrop. «Das ist es, mit A fing es an. Anonyme Briefe! Was sind das für anonyme Briefe, die Sie uns da mitgebracht haben?»
«Ich habe sie nicht mitgebracht», sagte ich. «Sie waren schon da.»
«Aber bevor Sie kamen, hat keiner welche erhalten», sagte Mrs Dane Calthrop anklagend.
«Das stimmt nicht, Mrs Dane Calthrop. Die Geschichte war bereits in vollem Gange.»
«Ach je», sagte Mrs Dane Calthrop. «Das gefällt mir gar nicht.»
Ihre Augen blickten bereits wieder in die Ferne.
«Ich kann mir nicht helfen, es kommt mir alles so falsch vor», sagte sie. «So sind wir hier nicht. Neid gibt es natürlich, und Rachsucht und all die anderen gehässigen kleinen Sünden – aber ich hätte nicht geglaubt, dass irgendjemand hier so etwas tun würde – niemals. Und das quält mich, verstehen Sie, denn ich sollte Bescheid wissen.»
Der Blick ihrer schönen Augen kehrte vom Horizont zurück und begegnete meinem. Er war besorgt und fast kindlich in seiner aufrichtigen Ratlosigkeit.
«Wieso das?», fragte ich.
«Weil ich sonst auch immer Bescheid weiß. Ich sehe das als meine Aufgabe, verstehen Sie. Caleb predigt gute, solide Doktrin und verabreicht die Sakramente. Das ist die Pflicht des Priesters – aber wenn man einem Priester die Ehe überhaupt zubilligt, dann hat, so meine ich, seine Frau die Pflicht zu wissen, was die Menschen fühlen und denken, selbst wenn sie nichts daran ändern kann. Und ich habe nicht die leiseste Ahnung, wessen Geist so…»
Sie brach ab, fügte dann zerstreut hinzu: «Solch dumme Briefe auch noch.»
«Haben Sie – äh – auch einen bekommen?»
Ich scheute mich fast zu fragen, aber Mrs Dane Calthrop antwortete vollkommen ungezwungen, wobei ihre Augen sich ein wenig weiter öffneten:
«O ja, zwei – nein, drei. Ich weiß nicht mehr genau, was darin stand. Irgendwelche albernen Behauptungen über Caleb und die Lehrerin, glaube ich. Völlig absurd, denn Caleb hat keinerlei Ader für Unzucht. Noch nie gehabt. Eine glückliche Veranlagung für einen Geistlichen.»
«Allerdings», sagte ich. «Oh, allerdings.»
«Caleb wäre ein Heiliger», sagte Mrs Dane Calthrop, «wenn er nicht ein klein wenig zu intellektuell wäre.»
Ich fühlte mich nicht berufen, auf diese Kritik einzugehen, aber Mrs Dane Calthrop sprach auch schon weiter; ein unverhoffter Gedankensprung hatte sie von ihrem Mann zu den Briefen zurückgebracht.
«Es gibt so vieles, was in den Briefen stehen könnte und nicht drinsteht. Das ist das Verwirrende daran.»
«Zu große Zurückhaltung kann man ihnen ja nun nicht vorwerfen», sagte ich bitter.
«Aber sie sind so uninformiert. Sie haben kein richtiges Material.»
«Was denn für Material?»
Die schönen, unbestimmten Augen erwiderten meinen Blick.
«Liegt das nicht auf der Hand? Es gibt genug Ehebruch hier – alles Mögliche. Haufenweise schändliche Geheimnisse. Warum verwendet der Briefeschreiber die nicht?» Sie hielt inne und fragte dann unvermittelt: «Was stand denn in Ihrem Brief?»
«Dass meine Schwester nicht meine Schwester ist.»
«Aber sie ist es?»
Mrs Dane Calthrop stellte die Frage mit ungeniertem, freundlichem Interesse.
«Natürlich ist Joanna meine Schwester.»
Mrs Dane Calthrop nickte.
«Sehen Sie, genau das meine ich. Ich bin sicher, es gäbe andere Dinge…»
Ihre klaren, unbeteiligten Augen blickten nachdenklich in meine, und plötzlich wusste ich, warum Lymstock Mrs Dane Calthrop fürchtete. In jedermanns Leben gibt es verborgene Kapitel, von denen er hofft, dass niemand sie je aufschlagen wird. Vor Mrs Dane Calthrops Auge lagen sie
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