Die Schattenkämpfer 3 - Der Fluch der Assassinen
zu wischen, Tränen, die, ob sie wollte oder nicht, unentwegt weiterflossen. Und auch als der Morgen graute, spürte sie noch immer diesen Kuss auf den Lippen.
Die Wahrheit
Learco war nicht imstande, in sein Schlafgemach zurückzukehren. In den Beinen
spürte er eine Art Kribbeln, eine Unruhe, die es ihm unmöglich machte, auch nur einen Moment stillzusitzen, und ihn dazu veranlasste, rastlos mit großen Schritten im Garten auf und ab zu gehen. Alles drehte sich um die eine Frage: Wer war Sanne? Und warum hatte er sich ihr so rückhaltlos, so ohne jede Vorsicht anvertraut? Nun, da sie gegangen war, erschien ihm alles in einem anderen Licht. Die Verbundenheit, die er gespürt zu haben glaubte, war wohl reine Illusion gewesen. Für ihn war und blieb dieses Mädchen eine Fremde mit einer unklaren, geheimnisvollen Vergangenheit. In seinem verzweifelten Bedürfnis nach einer Person, der er seine Verfehlungen beichten konnte, hatte er sie in einem helleren Licht gesehen, als es eigentlich gerechtfertigt war. Und nun ging ihm auf, dass er sich wie ein Idiot benommen hatte.
Er setzte sich in eine Ecke und nahm den Kopf in die Hände. Jetzt galt es, sich zu beruhigen und einen klaren Gedanken zu fassen. Aber es gelang ihm nicht: Das Bild, wie Sanne die Augen schloss, die Lippen öffnete und seinen Kuss erwiderte, quälte ihn. Sie war so unerträglich schön, dass er sich außerstande fühlte, nun die richtigen Konsequenzen zu ziehen. Vielleicht, weil es noch keine anderen Frauen in seinem Leben gegeben hatte.
Forra hatte öfter mal versucht, ihn von Huren verführen zu lassen, doch er hatte noch nicht mal die Hand nach ihnen ausgestreckt. Denn während sein Onkel der Ansicht war, dass ein Mann zwar keine Liebe brauche, aber ab und zu ein Weib, war er, Learco, da ganz anders. Die Gesichter dieser Frauen, die so vieles versprachen, erinnerten ihn nur an die Todeskämpfe, denen er am selben Tag beigewohnt hatte. Zu gut kannte er den Schmerz, um sich einem Gefühl der Zärtlichkeit hingeben zu können. Er wusste, dass sein Vater dafür sorgen würde, dass er einmal ein Mädchen aus dem Adel eines anderen Landes heiratete, aber nur, um einen Erben zu zeugen, der das Königsgeschlecht und die Herrschaft weiterführen würde. Eine falsche, leere Bindung. Nichts von alldem traf auf Sanne zu. Aller Zweifel zum Trotz spürte er, dass ihre Gefühle füreinander echt waren, hatte es deutlich gemerkt, als sie ihren Kopf an seine Brust legte. Ihr Herz hatte heftig geklopft, und er war überzeugt, dass sie sich in diesem Moment tatsächlich zu ihm hingezogen fühlte.
Doch dann hatte er sie geküsst und damit überrollt, hatte sie zu etwas gezwungen, was sie nicht wollte.
Er sprang auf und machte sich auf den Weg in sein Zimmer. Er durfte sie nicht wiedersehen. Es war ein furchtbarer Fehler gewesen, ihr seine Freundschaft anzutragen. Mit großen, schweren Schritten durchmaß er die Flure, ausnahmsweise einmal unbesorgt, dass das Geräusch jemanden stören könnte. Er bog um die letzte Ecke und blieb plötzlich stehen. Vor seinem Zimmer wartete Neor, und Learco errötete, überzeugt, es sei ihm im Gesicht abzulesen, was geschehen war. »Kannst du nicht schlafen?«, fragte sein Onkel mit forschendem Blick. »Nein. Zu viele Erinnerungen«, antwortete der Prinz knapp, während er eine Hand auf die Klinke legte. »Und du?«
»Ich wollte zu dir.«
Die Antwort gefiel Learco überhaupt nicht. Schweigend öffnete er die Tür und ließ ihn eintreten. Sein Onkel setzte sich in den Sessel im hinteren Teil des Raumes und schaute zerstreut in den Garten hinaus. Learco schloss die Tür ab, nahm dann auf dem Rand des Bettes Platz und wartete. Neor schaute ihn fest an.
»In einer Woche wird die Zeremonie stattfinden«, erklärte er.
Das war also der Grund des unerwarteten Besuches, und seufzend fuhr sich der Prinz mit der Hand durch die Haare. Jetzt musste er sich entscheiden. »Hast du darüber nachgedacht?«, drängte der Onkel weiter.
Er hatte noch nicht einmal die Zeit zu antworten.
»Ich jedenfalls habe mich kundig gemacht«, fügte Neor hinzu, mit einer schneidenden Stimme, die Learco fast einschüchterte. Zumindest beneidete er den Onkel um seine eiskalte Ruhe, seine innere Stärke, die er selbst manches Mal auch gern besessen hätte. »Ich bin nicht der Einzige, der die Herrschaft deines Vaters ablehnt.«
»Ja, er ist ein Despot«, stimmte Learco unumwunden zu und merkte dann, voller Zorn, dass ihm diese Zustimmung doch nicht leicht
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