Die Schattenleserin - Nachtschwarze Träume: Roman (German Edition)
klar. Er hat nämlich nicht dafür votiert, mich zu töten. Er hat mir nicht den Arm gebrochen. Er hatte keinen Rachefeldzug gegen mich gestartet. Aber Lena ist die einzige Option, die wir noch haben. Ich bin bereit, unsere Vergangenheit zu vergessen und neu anzufangen, wenn sie es auch ist.
»Kannst du Kyol aus dem Palast holen?«, frage ich sie.
»Kannst du ihn davon überzeugen, mich zu unterstützen?« Sie blinzelt nicht. Ich würde sie gern anlügen und ihr versichern, dass Kyol alles tut, worum ich ihn bitte, aber so ist es nicht. Er würde fast alles tun, und sosehr ich auch hoffe, dass seine bevorstehende Exekution dieses »fast« in Vergessenheit geraten lässt, glaube ich doch nicht, dass es so sein wird. Es gibt einen Grund, warum seine Unterstützung Lena den Thron sichern könnte: Die Fae respektieren ihn. Sie vertrauen ihm. Sie wissen, dass er tief in seiner Seele ein ehrenwerter Mann ist. Auch wenn seine Ehre verhindert hat, dass wir zusammen sein können, möchte ich doch nicht, dass sich dieser Teil von ihm ändert. Kyol war in den letzten zehn Jahren die einzige Konstante in meinem Leben. Ich will, dass er so bleibt, wie er ist.
Ich will, dass er am Leben bleibt.
»Ich weiß es nicht«, antworte ich. Gott, ich hoffe, diese Worte werden ihn nicht das Leben kosten. Lena schuldet mir gar nichts. Ohne eine Garantie wird sie vielleicht nichts unternehmen wollen, aber ich kann ihr keine geben. Wenn Kyol nicht denkt, dass sie gut für das Reich ist, dann wird er der Rebellion nicht helfen.
»Sethan hat das nicht gewollt«, meint sie leise und sieht auf den Couchtisch hinab. Ich entspanne mich ein wenig. Es ist ein gutes Zeichen, dass sie darüber nachdenkt, was Sethan tun würde. Sethan wäre das Risiko eingegangen.
»Als der Hochadel Atroth zum König wählte, hätte er protestieren können. Er hätte sich über die Neubildung der Provinzen beschweren können. Es gab einen leisen Aufschrei, aber das war zu erwarten. Womit er nicht gerechnet hatte, war Thrain.«
Thrain. Natürlich würde das zurück zu ihm führen. Ich wüsste vielleicht bis heute nichts über die Existenz der Fae, wenn er nicht gewesen wäre.
»Es hat immer Falschblute gegeben«, fährt sie fort. »Aber keines war so erfolgreich wie er. Er hat Atroth Angst eingejagt, und Atroth hat reagiert … aber falsch. Er fing an, Entscheidungen zu treffen, die darauf basierten, wie er den Thron behalten konnte, und nichts mit dem Schutz des Reiches zu tun hatten. Sethan …« Ihre Stimme bricht, und verdammt, beinahe hätte ich den Arm um ihre Schultern gelegt. »Sethan hat erst nach Krytta beschlossen, den König zu stürzen.«
Krytta. Eine Geisterstadt in der Mitte des Gebiets, das heute der Barren ist. Eine magische Implosion hatte alle Einwohner getötet, als das Tor zerstört wurde. Ihre Essenzen, ihre Seelen, wurden aus ihren Körpern gerissen. Mehr als zweitausend Fae – sie waren nicht in den Äther gegangen –, verrotteten wochenlang in der Sonne, bevor eine Karawane dort ankam. Aber das war nicht Atroths Schuld.
»Thrain hat das Tor zerstört«, merke ich an, »nicht der Hof.« Es klingt für mich, als würde ich den Hof verteidigen. Das tue ich nicht, nicht wirklich, aber der König und seine Fae haben auch Gutes getan. Sie haben mir das Leben gerettet, Thrain beseitigt und versucht, Frieden und Ordnung im Reich zu bewahren. Außerdem hätte Kyol nie für den König gekämpft, wenn er ein Tyrann oder durch und durch böse wäre.
»Es war Thrains Schuld«, stimmt mir Lena zu, »aber die Fae in Krytta haben ihn beschützt. Diese Unterstützung hätte er nicht gehabt, wenn Atroth andere Entscheidungen getroffen hätte. Die Händler aus Krytta konnten die Torsteuern nicht mehr aufbringen. Sie haben die Inspektoren belogen, als diese sie fragten, was sie transportierten, und der König reagierte mit dem Einfall in ihre Geschäfte und der Beschlagnahme ihrer Waren. Fae, die sich wehrten, wurden eingekerkert oder getötet, die Dinge eskalierten, und dann zerstörte Thrain das Tor.« Sie sieht mir erneut in die Augen. »Glaubst du, Taltrayn wird den Schaden sehen, den sein König angerichtet hat?«
Er hat ihn bereits gesehen. Aus diesem Grund ist er geblieben: Er glaubte, er könne mit Atroth reden. Inzwischen wird er wissen, dass er sich da geirrt hat, aber ob seine neue Meinung über den König dazu führen wird, dass er Lena unterstützt, das kann ich nicht sagen.
Doch danach hat sie auch gar nicht gefragt.
»Ja«, antworte ich
Weitere Kostenlose Bücher