Die Schattenmatrix - 20
Regis Hasturs Gesichtsausdruck vergessen, als ihn Ida nach dem Namen des Holzes fragte, aus dem ein bestimmter Stuhl geschnitzt war, und ihm anschließend mitteilte, dass er von einem alten terranischen Dialekt abgeleitet war.
Donal unterhielt Ida mit einem Bericht über einen Falken, den er dressiert hatte. Er begann in dem Terranisch, das ihm Margaret in Arilinn beigebracht hatte, dann wechselte er zu Casta, als ihm zunehmend die Wörter ausgingen. Ida hörte gespannt zu, aber Margaret war sich nicht sicher, wie viel sie über die Falknerei lernte. Die vielen Jahre im Umgang mit den Studenten hatten Ida große Erfahrung mit jungen Menschen vermittelt, und Margaret bemerkte, dass sie Donal gelegent
lieh unterbrach und ihm das entsprechende terranische Wort vorsagte. Die beiden unterrichteten sich gegenseitig!
Ihr erster Halt war jedoch nicht die Nähnadelstraße, sondern der kleine terranische Friedhof, auf dem Ivor beerdigt war. Sie erreichten ihn eine Stunde nachdem sie von Burg Co-myn aufgebrochen waren. Obwohl es zu Fuß nicht weit war, musste die Kutsche mehrere Umwege durch die engen und vereisten Straßen fahren.
Der Friedhof lag unter einer dicken Schneedecke, es war sehr still, und die vereisten Grabsteine reflektierten das blasse Sonnenlicht. Als sie Ivors letzte Ruhestätte erreichten, stellten sie fest, dass sie größtenteils vom Schnee befreit und ganz mit Immergrün bedeckt war. Diese Fürsorge ließ die anderen Gräber trostlos und vernachlässigt aussehen.
»Wie hübsch. Das war wirklich nett von dir, Marguerida.« Ida hatte sich angewöhnt, die darkovanische Version von Margarets Namen zu verwenden, wenngleich sie gelegentlich auch noch den Spitznamen >Maggie< gebrauchte. »Danke.«
»Das war ich nicht, Ida. Das muss Meister Everard oder sonst jemand aus der Gilde gewesen sein. Ich habe ihm ausrichten lassen, dass ich dich heute hierher führe. Ich hoffe, der Stein gefällt dir.« »Ja. Aber warum sollten die Leute von der Gilde bei dieser Kälte hier herauskommen und …«
»Aus Respekt, nehme ich mal an. Als ich vor einigen Monaten hier war, lagen frische Blumen auf dem Grab, und es war gesäubert. Dieser Friedhof ist ausschließlich für Terraner, und vielleicht betrachtet die Gilde es als ihre Pflicht, sich um das Grab eines Musikerkollegen zu kümmern.«
»Das ist sehr rücksichtsvoll«, sagte Ida nachdenklich und starrte auf das Grün.
Margaret trat auf dem kalten Boden von einem Fuß auf den anderen. Sie war unruhig, allerdings nicht wegen der Kälte,
sondern wegen eines Ansturms von Gefühlen, die sie kaum bezwingen konnte. »Ich habe im Herbst ein Klagelied geschrieben, nur die Musik«, fing sie an und dachte daran, wie sie es bei ihrer Rückkehr nach Thendara auf ihrer kleinen Harfe gespielt hatte. In Neskaya hatte sie es eines Abends erneut gespielt und zu ihrer großen Freude und Überraschung auch die passenden Worte dazu gefunden. »Die Worte kamen erst später. Es ist das erste Stück, das ich seit Jahren komponiert habe.«
»Wirklich? Würdest du es für mich singen?« Ida wirkte ein bisschen still und angestrengt und auch nicht mehr so guter Laune. »Ich kann es versuchen. Hier ist nicht der beste Ort zum Singen.« Donal war zurückgeblieben und hatte mit einem der Gardisten geredet, die der Kutsche gefolgt waren, nun kam er über den Friedhof gestapft. Seine kleinen Stiefel knirschten im Schnee, und Margaret fiel ein, dass er dringend größere brauchte. Er schaute sich interessiert um, offenbar zu Späßen aufgelegt.
Nachdem Margaret nach einer guten Ausrede gesucht hatte, um das Stück nicht darbieten zu müssen, und sich wünschte, sie hätte erst nachgedacht und dann geredet, holte sie ein paar Mal tief Luft, um ihre Stimmbänder aufzuwärmen. Wieso hatte sie das Lied bloß erwähnt? Sie war so unsicher wie seit Jahren nicht mehr. Schließlich begann sie zu singen und wurde von der Melodie und den Worten fortgerissen; sie war so tief versunken, dass sie das Rascheln von Stoff hinter sich nicht hörte. Ihre Stimme dehnte sich beim Singen aus, sie wurde mit jeder Strophe lauter, und der Klang ihrer Worte glitt über die Grabsteine und erfüllte sie von neuem mit einem traurigen Gefühl von Verlust und Frieden. Es hatte dringend der Worte bedurft,
wie sie nun erkannte, und sie hatte gute Arbeit geleistet und irgendwie die richtigen gefunden.
Ida weinte leise, und Margaret fühlte sich sofort schrecklich schuldbewusst. Der Anblick der trauernden alten Frau zerriss ihr das Herz.
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