Die Schattenseherin: Roman (German Edition)
nahezu orangefarben und hatte etwas Unwirkliches an sich. Er wusste absolut nicht, was ihn hinter der Tür erwartete, aber es war in Caes’ eigenem Interesse, dass ihm nichts geschah.
Cale ballte die Hand zur Faust und klopfte damit an. Der Ton wirkte hohl und hallte noch nach, nachdem Cale seine Hand zurückgezogen hatte. Er wartete, und als nichts geschah, klopfte er ein weiteres Mal.
› Mach auf‹ , sagte Caes. › Er wird zu Hause sein und dich einfach ignorieren.‹
› Reizende Freunde hast du.‹
› Er ist nicht mein Freund.‹
› Was ist er dann?‹
Caes gab einen grollenden Laut von sich. › Das sagte ich dir bereits – er ist ein ...‹
› Ein Unparteiischer, ich weiß.‹ Cale hatte den runden Griff der Tür umfasst und drehte ihn nun. Die Tür war tatsächlich nicht abgeschlossen und ließ sich öffnen. Zumindest so weit, dass Cale sich gerade so hindurchzwängen konnte. Der muffige Geruch abgestandener Luft schlug ihm entgegen, und er zögerte. Darunter lag ein weit modrigerer, älterer Duft.
› Geh schon weiter und stör dich nicht an den Sachen. Er ist Sammler‹ , erklang Caes’ Stimme in Cales Kopf, aber sie klang ein wenig angespannt, als wäre der Dämon wachsamer als sonst.
Cale traute sich nicht zu fragen, was Caes unter einem Sammler verstand, aber nachdem er sich ganz durch die Tür geschoben hatte, verstand er. Die Wohnung hinter der Tür war breiter, als die Mauer vermuten ließ, aber das war nichts, was Cale erstaunte. Viele Dämonen verknüpften ihre Heimstatt mit einem winzigen Teil der Hölle, um so mehr Platz zu haben oder andere Annehmlichkeiten zu genießen. In der Hölle galten andere Gesetze, und so hatte beispielsweise Lexa dieses System benutzt, um unabhängig vom Gas- und Stromnetz Edinburghs zu sein. Je weniger Spuren sie hinterließ, umso besser.
Was Cale aber wirklich staunen ließ, war die Menge an Kram, die die ganze Wohnung versperrte. Caes’ Unparteiischer war kein Sammler, er war ein Messie. Bis zur Decke stapelten sich Kartons mit undefiniertem Inhalt, die Ecken waren zugestopft mit Stapeln von Büchern, heiligen Gebetstüchern und Pergamentrollen. An den Wänden hingen bizarre Tierbüsten und glotzten aus gläsernen Augen auf Cale herab. Am auffälligsten waren aber Hunderte von Flaschen in den bizarrsten Formen, die nahezu jede ebene Fläche belegten. Sie waren mit allerlei Flüssigkeiten gefüllt und mit unlesbaren Etiketten beklebt. Jemand hatte mit Tinte darauf geschrieben, die im Lauf der Jahre zerlaufen und ausgeblichen war.
Cale bahnte sich einen Weg durch das Chaos – der Besitzer der Wohnung hatte zumindest hier im Wohnzimmer schmale Pfade zwischen den aufgetürmten Dingen hinterlassen. Einer davon führte quer durch das Zimmer und zu einer weiteren Tür. Cale ging darauf zu und wollte nach der Türklinke fassen, als eine Stimme ihn herumfahren ließ: »Tee findest du dahinten nicht, Junge.«
Cale blinzelte und sah erst jetzt die Gestalt, die in einem der beiden Sessel saß. Sie schien nahezu die ausgeblichene beige Farbe des Möbels angenommen zu haben – der Mann war nicht sonderlich groß, dafür sehr dünn, fast hager. Seine Augen waren ebenso farblos wie sein Körper, aber der Blick darin war stechend und fixierte Cale. Er hatte das unangenehme Gefühl, dass der Mann durch ihn hindurch und Caes direkt ansah.
»Du warst noch nie hier, oder?«
»Nein, ich ...«
»Ich spreche nicht mit dir, Junge«, unterbrach ihn der Mann.
Cale biss die Zähne zusammen, überließ aber vorsichtig Caes die Macht über seine Stimmbänder.
» Ich hatte noch keine Zeit, dich hier zu besuchen «, erwiderte Caes mit rauer Stimme. Cale musste das Bedürfnis, sich zu räuspern, unterdrücken. Er würde später wieder stundenlang mit Halsschmerzen kämpfen müssen.
»Es wäre höflich gewesen, wenn du vorbeigeschaut hättest. Oder hast du immer noch solche Angst vor mir?«
» Du bist die Pest, ich ein Inkubus – das ist keine Frage der Angst, sondern der natürlichen Feindschaft.«
› Moment mal, die Pest?‹, mischte Cale sich in Gedanken ein, aber Caes brummte nur als Antwort.
»Sei ein bisschen netter zu deinem Jungen«, sagte der dürre Mann. »Immerhin trägt er dich herum, wie eine brave Mutterglucke.«
Der Dämon knurrte lauter, aber Cale nahm ihm rasch die Macht über seine Stimmbänder wieder ab. Diesmal räusperte er sich wirklich. »Was meint er mit Pest?«
»Genau das, was es heißt«, sagte der Mann, ohne im Mindesten über den
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