Die Schattenseherin: Roman (German Edition)
Wenn sie sich allerdings irrte und Cale die Wahrheit sprach, würde sie ihn verraten und möglicherweise einen furchtbaren Fehler begehen. Aber sie musste eine Entscheidung treffen – ihr blieb kaum eine Wahl.
Noch einmal glitt ihr Daumen über Cales Wange, dann reichte sie das Bild an den Engel. Der nickte zufrieden. »Bitte, stehen Sie auf.«
Zoe tat es und stellte sich auf Dumas’ Bitte in die Mitte ihres Wohnzimmers. »Wollen Sie dieses Ritual wirklich hier durchführen?«, fragte sie ein wenig ungläubig. »In meinem Wohnzimmer?«
Dumas schmunzelte zum ersten Mal, seit sie ihn kannte. »Gefällt Ihnen Ihr Wohnzimmer nicht?«
Zoe zuckte mit den Schultern. »Doch, aber ... es kommt mir nur so wenig mystisch vor.«
»Mystik liegt in den einfachen Dingen, Zoe«, informierte Dumas sie sanft. »Blut ist mystisch, Gottes Atem in jedem einzelnen Menschen ist mystisch. Mehr braucht es auch nicht, um die Kraft anzuzapfen, die uns alle hervorgebracht hat.« Während er sprach, hatte er sein Jackett abgestreift und begann nun, sein Hemd aufzuknöpfen. Zoe spürte, wie sie rot wurde, und wandte den Blick ab.
»Bitte, keine falsche Scheu«, erwiderte Dumas. »Dieser Körper ist nicht anders als alle anderen.« Er hatte das Hemd mittlerweile komplett geöffnet, und Zoe sah nur zu deutlich die straffen Bauchmuskeln und Sehnen, die sich plastisch unter der Haut abzeichneten. »Ihr Körper ist ganz sicher anders als alle anderen«, murmelte sie und rieb sich über den Nacken, den Blick auf ihre Füße gesenkt. Sie kam sich seltsam lächerlich vor, in ihren dicken Wollsocken, der ausgewaschenen Jeans und dem überweiten T-Shirt, während ein Engel sich gerade vor ihr auszog. Zu ihrer Erleichterung stoppte Dumas allerdings bei seiner Hose und stellte sich hinter sie. Seine Hände legten sich auf ihre Schultern, und er flüsterte an ihrem Nacken: »Sie müssen mir absolut vertrauen, Zoe. Können Sie das?«
Sie nickte zaghaft und hörte Dumas einen zufriedenen Laut von sich geben. Seine Hände glitten von ihren Schultern, und er stellte sich mit dem Rücken zu ihr. Seine Schultern streiften die ihren, sein Haar drückte sich gegen ihre roten Strähnen. Er legte den Kopf in den Nacken und rief laut Worte. Seine Stimme dröhnte durch den Raum, die Mauern um sie herum erzitterten, und Zoe hatte das Gefühl, plötzlich von Licht schier erdrückt zu werden. Dumas’ Worte waren weder Latein noch Griechisch, auch wenn sie ein wenig danach klangen, aber Zoe konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass sie älter, viel älter als diese beiden Sprachen waren.
Vor ihnen auf dem Boden formte sich eine dünne, leuchtende Linie aus gleißendem Licht und fraß sich in die Holzdielen. Sie formte einen Kreis um Zoe und Dumas, verstärkte diesen durch einen zweiten, größeren Ring um sie herum und verharrte dann, als würde sie warten. Der Engel drehte sich um und ging an Zoe vorbei. Vor ihr breitete er die Arme aus, und mit einem lauten Rauschen entfalteten sich seine Flügel. Der Raum hätte eigentlich viel zu klein für die gewaltigen Schwingen sein müssen, die aus Dumas, Rücken erwuchsen, aber Zeit und Raum schienen durch die Macht des Engels seltsam gekrümmt und verformt.
Wieder rief er etwas, ein einzelnes Wort, und wie ein gieriger Jagdhund stürzte die leuchtende Linie sich auf eine Stelle direkt vor Dumas und brannte ein kompliziert anmutendes Zeichen in den Boden. Dumas ging auf diese Weise um Zoe herum, deutete immer wieder auf den Boden und malte auf diese Weise einen dritten Kreis aus Zeichen um die beiden ersten Ringe. Als das getan war, stellte er sich hinter Zoe, die das Schauspiel gespannt beobachtet hatte und sich noch immer nicht traute, auch nur ein Wort zu sagen.
»Vertrauen Sie mir, Zoe«, ermahnte Dumas sie noch einmal und stellte sich wieder hinter sie. Sein Körper fühlte sich unnatürlich heiß an. Nicht wie Cales Hitze, die sie immer nur gewärmt hatte. Zoe war sich sicher, dass, wenn sie es zuließe, Dumas sie mit seiner eigenen Hitze zu Asche verbrennen könnte. Sie biss sich auf die Zunge, um sich zu beherrschen und nicht einfach wegzulaufen.
Dumas umfasste ihre Hände und zog sie an sich, schlang seine Arme um ihren Bauch und presste sie eng an sich. »Blut finde zum Blut zurück«, sagte er, und sein Fingernagel formte sich zur Klaue und ritzte Zoes Haut auf. Diesmal schrie sie und spürte, wie die rote Flüssigkeit sich durch das zerschnittene T-Shirt drängte und an ihrer Haut entlang auf den Boden
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