Die Schiffbrüchigen des »Jonathan«
jetzt immer langsamer – aus den Adern floß, verschwand es in die Erde, die es begierig aufsaugte. Seit den ersten Weltzeitaltern hat sie sich mit Menschenblut gesättigt; was waren einige Tropfen mehr oder weniger, da der rote Regen ununterbrochen fließt…
Aber bis zu diesem Tage war die Insel Hoste von diesem allgemein gültigen Gesetz ausgenommen gewesen; sie war ja bisher unbewohnt, darin hatte sie ihre ursprüngliche Reinheit bewahrt. Jetzt aber hatten seit kurzem Menschen die Einsamkeit bevölkert – und schon war das Blut dieser Menschen geflossen.
Wahrscheinlich war es das erste Mal, daß die hostelische Erde mit Menschenblut befleckt wurde…
Es sollte nicht das letzte Mal sein…
Elftes Kapitel.
Ein Oberhaupt.
Als man den immer noch besinnungslosen Halg auf sein Bett gelegt hatte, wechselte der Kawdjer den Notverband und behandelte die Wunde nach allen Regeln der Kunst. Da zitterten die Lider des Verwundeten, seine Lippen öffneten sich ein wenig und ein leichter rosiger Lebensschimmer belebte die fahlen Wangen und nach wenigen schwachen Seufzern verfiel er aus der Bewußtlosigkeit der Ohnmacht in diejenige des Schlafes.
Ob die furchtbare Wunde jemals heilen konnte? Die menschliche Weisheit konnte es nicht sagen. Die Situation war jedenfalls sehr ernst, wenn auch nicht ganz verzweifelt; ganz unmöglich war es nicht, daß die tiefe Wunde der Lunge vernarbte.
Nachdem der Kawdjer für Halg alles getan, was seine Erfahrung und Liebe für nötig erachtet hatte, verordnete er dem Kranken vollständige Ruhe und absolute Unbeweglichkeit und eilte nach Liberia hinüber, wo andere vielleicht seiner bedurften.
Das Unglück, das ihn so schmerzlich betroffen hatte, konnte ihn nicht einen Moment lang von seiner Pflicht abwendig machen, sein opferfreudiger Wille, sein Altruismus blieben derselbe. Obwohl er sein Herz zerrissen fühlte, vergaß er darob nicht der Toten und Verwundeten, welche nach Sirdeys Aussage in Liberia auf seine Hilfe rechneten. Würde er dort wirklich Verwundete finden – oder hatte Sirdey schändlich gelogen? Er war im Zweifel, darum wollte er sich mit eigenen Augen Gewißheit verschaffen.
Es war jetzt zehn Uhr abends geworden. Der Mond stand im ersten Viertel und neigte sich nach Westen seinem Untergange zu und vom finsteren östlichen Himmel fielen dichte Schatten auf die Erde herab. Aus der Finsternis hob sich ein rötlicher Lichtschein ab, Liberia schlief noch nicht.
Der Kawdjer schritt rascher aus. Durch die schweigende Landschaft drang ein fernes Rauschen, erst leise, dann immer mehr anschwellend, je mehr er sich näherte.
In zwanzig Minuten hatte er das Lager erreicht. Rasch ging er zwischen den dunklen Häusern hindurch, bis er auf dem freien Platze stand, der sich vor der Wohnung des Gouverneurs ausbreitete. Da fesselte ein fremdartiges und äußerst malerisches Schauspiel seine Blicke, so daß er wie gebannt stehen blieb.
Die sämtliche Bevölkerung Liberias schien sich auf diesem Platze ein Stelldichein gegeben zu haben. Ein Kreis von qualmenden Fackeln erleuchtete die Szene. Alle waren hier anzutreffen, Männer, Frauen und Kinder, welche in drei getrennten Gruppen dastanden. Die in bezug auf ihre Anzahl stärkste dieser Gruppen war dem Kawdjer gerade gegenüber aufgestellt. Diese bestand aus sämtlichen Frauen und Kindern, verharrte stillschweigend auf ihrem Platze und schien nur aus Zuschauern für die beiden anderen Gruppen zu bestehen, deren eine in Schlachtstellung vor dem »Regierungsgebäude« aufgepflanzt war, als ob sie den Eingang verteidigen wollte, während die andere die gegenüberliegende Seite des Platzes behauptete.
Nein. Sirdey hatte doch nicht gelogen! Mitten auf dem Platze lagen wirklich sieben lang hingestreckte Körper. Verwundete oder Tote?
Aus der Entfernung konnte es der Kawdjer nicht beurteilen, die beweglichen Flammen der Fackeln verliehen ihnen allen das Aussehen von Lebenden.
Nach ihrer Haltung war es unmöglich, die gegenseitige feindselige Stimmung der beiden letzten Gruppen in Zweifel zu ziehen. Und dennoch schien sich zwischen den beiden gegnerischen Parteien eine neutrale Zone auszubreiten, die keine von ihnen zu überschreiten wagte. Jene, welche allem Anschein nach die Rolle der Angreifer spielten, machten nicht Miene, den Kampf zu beginnen, und die Verteidiger Beauvals hatten auch noch keine Gelegenheit gehabt, ihren Mut zu beweisen. Der Kampf hatte noch nicht begonnen. Man verhandelte noch, aber nicht mit allzu sanften Worten. Über
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