Die Schiller-Strategie: Die 33 Erfolgsgeheimnisse des Klassikers (German Edition)
Aufhebung des Schreibverbotes abringen …
Langsam erhebt sich Schiller wieder und geht zu dem kleinen Tisch vor dem Fenster. Eigentlich hatte er hier an einem neuen Stück arbeiten wollen und nicht an einem unterwürfigen Brief an Karl Eugen. Und doch – er musste zumindest seine Familie vor Schaden bewahren. Entschlossen schiebt Schiller den wackligen Stuhl vor den Tisch, zieht ein Blatt Papier aus seiner Mappe und taucht die Feder in die Tinte. Er zögert keine Minute länger, sondern beginnt zu schreiben …
Schiller, der versierte Autor, zieht in diesem Brief alle Register. Er rudert zurück. Er schmeichelt, er umwirbt den Herzog, er versucht seine Flucht zu rechtfertigen, baut goldene Brücken. In einem Ton, der uns heute unterwürfig erscheint – aber anders lautend wäre der Brief dem Herzog gar nicht erst vorgelegt worden. Schiller weiß, dass er im Grunde zu weit gegangen ist, wenn auch aus ehrenwerten Motiven. Die Sympathien des Publikums, das moralische Recht weiß er auf seiner Seite. Aber im juristischen Sinne bleibt Fahnenflucht ein schweres Vergehen.
Aus sicherer Entfernung heraus hofft Schiller gewissermaßen, das Geschehene ungeschehen zu machen, das juristische Vergehen noch zu seinem Vorteil umzubiegen. Denn unversehens sitzt er zwischen den Stühlen. Der triumphale Einzug, den er sich in Mannheim erhofft hat, bleibt aus (siehe folgendes Kapitel: „Lerne leere Versprechungen erkennen“). Man rät ihm hingegen unverblümt, unverzüglich dem Herzog zu schreiben, alles aufzuklären, eine Versöhnung herbeizuführen. Und Schiller versucht nun, gewissermaßen um fünf nach zwölf, den entstandenen Bruch wieder zu kitten.
Vergebens. Der Herzog stellt sich stur. Nur Unverbindliches verspricht er, von einer Aufhebung des Schreibverbots ist keine Rede, Schiller soll ohne Bedingungen in die Heimat zurückkehren. Als Schiller insistiert, bricht der Herzog den Kontakt schließlich brüsk ab.
Der beleidigte Chef zürnt seinem ehemaligen Untergebenen – und ist nicht zum Einlenken bereit. Denn was Schiller ausgelöst hat, ist ein dramatischer Gesichtsverlust des Landesherrn. Die spektakuläre Flucht macht schnell die Runde, und die Sympathien liegen eindeutig beim Schwächeren. Welcher Chef lässt sich eine solche öffentliche Demütigung, ein derartiges Vorgeführt-Werden schon gefallen? Schillers Flucht ist eine ohne Wiederkehr. Zu groß ist der Bruch, zu symbolisch die öffentlich gewordene Handlung – vielleicht vergleichbar mit dem medienwirksamen Ad-hoc-Rücktritt Oskar Lafontaines im Frühjahr 1999 von allen Ämtern oder dem von Bundespräsident Horst Köhler im Sommer 2010.
Schillers deprimierende Situation nach seiner Flucht und die Versuche, den Herzog doch noch umzustimmen, sind für uns in doppelter Hinsicht ein Lehrstück. Zum einen durch die Diplomatie und Finesse, die Wortgewandtheit, mit der Schiller argumentiert. Und zum anderen dadurch – und das hat Schiller schmerzhaft erlebt –, dass bis heute das Sprichwort gilt: „Man sieht sich immer zweimal im Leben.“ Und zwar nicht nur in kleinen und überschaubaren Branchen, sondern im Grunde in der ganzen Lebens- und Arbeitswelt.
Vernetzung und weltweite Mobilität führen dazu, dass sich plötzlich berufliche Konstellationen ergeben können, an die man zuvor im Traum nicht gedacht hätte. Da werden Berater zu Chefs, wechseln Politiker ins Beraterfach, aus ehemaligen Angestellten werden die Auftraggeber von morgen – und aus dem früheren Jura-Praktikanten innerhalb weniger Jahre vielleicht sogar ein US-Präsident, wie man es am Beispiel von Barack Obama sieht. Und wer die formellen und informellen Netzwerke nicht kennt, kann sich leicht darin verfangen – oder von einer Seilschaft ins Stolpern gebracht werden.
Auch wenn es Sie, verehrte Leser, daher einmal in den Fingern jucken sollte, eine verbale Ohrfeige auszuteilen oder den beruflichen Abschied mit einem ordentlichen Knall zu versehen – tun Sie es nicht. Das zeugt nämlich nicht nur von schlechtem Stil (von den juristischen Folgen ganz zu schweigen), sondern es kann auf lange Sicht auch verheerende Folgen haben. Im entscheidenden Moment die Contenance zu wahren und dem Gegenüber einen Gesichtsverlust zu ersparen, ist somit nicht nur ein Zeichen innerer Größe, sondern auch von Diplomatie und Lebensklugheit. Mehr noch: Wer selbstbewusst genug ist, im Kleinen klug einzulenken, kommt im Großen häufig besser ans Ziel (siehe auch Kapitel „Erkenne Deinen Wert“).
Schiller
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