Die schlafenden Hüter - Das Marsprojekt ; 5
üblichen zwei Stunden merkte man, wie das Flugboot tiefer ging. Caphurna sah aus dem Fenster. Der Anblick war nicht mehr der gewohnte. Bis vor Kurzem hatte man in diesem Moment nur die weite schwarzgraue Geröllebene des Daedalia Planum unter sich gesehen und sich, wenn man die Strecke zum ersten Mal flog, gefragt, wieso um alles in der Welt der Pilot hier in der Einöde zur Landung ansetzte. Dann, sobald eine bestimmte Höhe unterschritten war, hatte sich auf einmal – wie hingezaubert – die Löwenkopf-Formation gezeigt und die beiden blauen Türme, die sich im Abstand von zwei Kilometern voneinander erhoben, jeder von ihnen kaum fassbare vierhundert Meter hoch.
Das war das Tarnfeld gewesen, von dem sie nicht einmal ansatzweise verstanden hatten, wie es funktionierte. Doch vor vier Wochen hatte sich dieses Tarnfeld plötzlich verflüchtigt, sich einfach aufgelöst, und erst da hatten sie bemerkt, dass es nicht nur den Löwenkopf bedeckt, sondern den ganzen Mars eingehüllt hatte.
Nun sah man die imposante geologische Struktur schon von Weitem: ein großer, alter Vulkankrater, der seinen Auswurf ungleichmäßig verteilt hatte, sodass die dunklen, strähnigen Spuren aus großer Höhe wie die Mähne eines grob skizzierten Löwen aussahen. Irgendwann hatte sich aus der Mitte des Kraterbodens ein unregelmäßiger Tafelberg erhoben, mit Furchen und Formen, die den Eindruck noch verstärkten, auf die groben Umrisse eines Löwengesichts zu schauen: Der Tafelberg war in diesem Bild die Schnauze.
Und dort, wo bei der Skizze eines Löwengesichts die Augen gewesen wären, erhoben sich die beiden blauen Türme. Unwirklich sahen sie aus, makellose, schlanke Zylinder von der Farbe tiefen Meerwassers. Über das Material, aus dem sie bestanden, wusste man so gut wie nichts. Es konnte den härtesten Diamantbohrern widerstehen, doch es konnte sich auch bewegen wie flüssiges Gelee, es konnte Felsgestein durchbohren und Menschen an andere Orte versetzen, auf andere Planeten, wenn es sein musste – aber man wusste nicht, wie das möglich war.
Zwei Männer vom Wartungsteam erwarteten sie schon, als sie landeten. Sie wussten nicht, was er und Mrs Faggan vorhatten; offiziell sollte es so aussehen, als begleite er Carls Mutter einfach nur an den Ort, an dem ihr Sohn von seinem Abenteuer in den gläsernen Höhlen zurückgekehrt war.
Das war eine wenig glaubwürdige Geschichte, da besagtes Abenteuer schon ziemlich lange zurücklag und Carls Mutter inzwischen bereits mehrmals am Löwenkopf gewesen war, aber eine bessere war ihnen nicht eingefallen. Yin Chi hatte jedenfalls auf größtmöglicher Geheimhaltung bestanden. »Ich kann Pigratos Entscheidungen inzwischen gut verstehen«, hatte er Caphurna anvertraut. »Falls sich noch Agenten der Heimwärtsbewegung unter der momentanen Besatzung der Marssiedlung befinden sollten, könnte diese Neuigkeit gefährliche Konsequenzen haben.«
Wie er auf die Idee kam, es könne noch weitere Agenten der Heimwärtsbewegung auf dem Mars geben, das hatte er Caphurna nicht anvertrauen wollen.
Sie erklommen die Leiter, die auf den Tafelberg hinaufführte. Nur sie beide, Mrs Faggan voran. Oben auf der Ebene stand der dritte, kleine Turm. Er war etwa zehn Meter hoch und durchmaß auch zehn Meter, doch anders als die beiden großen Türme erstrahlte er nicht in unwirklichem Blau, sondern wirkte dunkel, wie ein düsterer Zylinder aus Glas. Wenn man näher kam, glaubte man, direkt hinter ihm eine fensterlose Halle zu sehen, mit einer Reihe unterschiedlich breiter Türöffnungen. Stand man endlich davor, erkannte man Gänge hinter den Öffnungen, die sich bald im Dunkeln verloren, und man stellte fest, dass sich das, was man da sah, keineswegs hinter dem großen Glaszylinder befand. Es sah wie eine optische Täuschung aus, irgendwie in den Zylinder hineingespiegelt. Man konnte darum herumlaufen und die Halle aus jeder beliebigen Perspektive betrachten, mehr aber nicht.
Auch heute lag die Halle wieder leer und verlassen da, wie fast immer. Ein einziges Mal hatten die Kameras, die rings um den Turm aufgestellt waren, einen der Roboter beim Durchqueren der Halle aufgezeichnet: eine klobige Maschine, ein dunkelmetallischer Kegelstumpf, an dessen Oberseite ein Kranz von Tentakeln träge hin und her wogte, wobei jedes Tentakelende mit einem anderen, bizarr aussehenden Werkzeug bestückt war. Aber diese Beobachtung lag schon einige Wochen zurück.
Caphurna schaltete die Kameras ab, trat dann an den Turm heran
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