Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
fragte sie.
»Vor zwei Wochen erkrankte jemand aus dem Gefolge an der gleichen Krankheit. Ein junger Offizier.«
Salome war nicht wirklich überrascht.
»Der Fürst«, berichtete der Arzt weiter, »kümmerte sich persönlich um die Pflege des Kranken, und wenn ihm das nicht möglich war, erkundigte er sich beinahe stündlich nach dessen Befinden. Ich glaube, es gibt keinen Zweifel, dass die beiden … nun ja.«
»Ein Paar waren«, vervollständigte Salome den Satz. »Nein, ich denke, das ist offensichtlich. Und jetzt wird mir auch klar, weshalb Nathan die Krankheit verheimlicht. Er tut es für Philipp, für seinen Ruf. Wenn etwas davon an die Ohren des Volkes dringt, ist Philipps Ansehen zerstört.«
Mit einem Mal begriff Salome die Zusammenhänge, nicht nur die der letzten Wochen, sondern auch die Geschehnisse in all den Ehejahren. Philipps mit Ehrfurcht praktizierter Glaube verbot die Liebe, die er empfand, und so war er jahrelang hin und her gerissen zwischen den in Stein gemeißelten Geboten und den Gefühlen tief in seinem Herzen. Er musste sich unvorstellbar gequält haben, und vielleicht rührten sogar die unerklärlichen Kopfschmerzen, die er damals gehabt hatte, von diesem inneren Kampf her. Sie, Salome, liebte er nur im Geiste, sein Körper jedoch lebte für einen anderen, für einen Mann. Ihre Liebe zu Timon hatte für Philipp manches leichter gemacht. Vielleicht war es ihr damals in der Synagoge gelungen, ihn zu überzeugen, dass Liebe an sich niemals Sünde sein kann, jedenfalls war er ihr seit diesem Tag wie von Ketten befreit vorgekommen, und vielleicht hatte er in der darauffolgenden Nacht zum ersten Mal überhaupt seinen Gefühlen nachgegeben.
»Und Nathan?«, fragte sie. »Hat er auch diese Krankheit?«
»In einem frühen Stadium.«
»Darum«, fiel Salome ein, »hat Nathan auch einen griechischen Arzt hinzugezogen, keinen jüdischen.«
»So ist es. Der jüdische Arzt hätte Widerwillen empfinden können und wäre vielleicht weniger verschwiegen gewesen. Wir Griechen hingegen haben den hippokratischen Eid geleistet, wir helfen jedem, gleichgültig, wer er ist oder woran er leidet.«
Salome blickte den Arzt durch die Dunkelheit an. »Sag mir die Wahrheit. Wie steht es um Philipp?«
Der Arzt schüttelte entmutigt den Kopf. »Der junge Offizier ist vor sechs Tagen an der Entzündung gestorben, ohne dass ich etwas hätte tun können. So ging es auch schon dem großen Alexander. Wenn kein Wunder geschieht, wird Philipp ebenfalls daran sterben.«
Salome verspürte einen leichten Schmerz, als sie fragte: »Wann?«
»Es kann morgen sein oder in zehn Tagen. Vielleicht auch noch in dieser Nacht.«
Sie stöhnte auf und setzte sich wieder auf das Bett. Philipp tat ihr unendlich Leid. Er hätte Besseres verdient, als in einem Hinterzimmer versteckt zu sterben, nachdem er sein Leben dem Wohl seines Volkes gewidmet hatte.
»Kann ich noch etwas tun?«, fragte der Arzt.
Sie verneinte und dankte ihm für seinen ehrlichen Bericht, wartete, bis er gegangen war, und blickte dann von ihrer Terrasse aus in den Nachthimmel. Eine Stimme in ihrem Innern forderte sie auf, niederzuknien und für Philipp zu beten, aber sie widerstand der Anweisung. Philipps Wohl lag nicht in der Obhut eines Gottes, der ihn nicht haben wollte, der ihn und seine Liebe ablehnte, ebenso wenig wie sie selbst unter der Obhut dieses Gottes stand. Sie würde nie wieder vor ihm niederknien, nie wieder ein Wort an ihn richten.
In diesem Moment sagte sie sich von ihm los.
In seiner Nähe fühlte sie sich wohl. Alle Schwermut, alle Leiden, die ganze Misere ihres Lebens fiel für die wenigen Momente von ihr ab, die ihr mit ihm vergönnt waren. Sie stellte sich vor, wie es gewesen wäre, wenn sie ihn früher kennen gelernt hätte. Hätte sie sich dann auch in diesen Mann verliebt? Oder erzeugte erst das derzeitige Unglück diese Gefühle in ihr?
Zwischen ihnen lagen Welten. Sie war von königlichem Blut, eine Herodianerin, aufgewachsen in einem riesigen Palast. Wenn sie aus den Fenstern geblickt hatte, war ihr Jerusalem wie ein Spiel mit Bauklötzen vorgekommen, so klein schien es ihr damals zu sein. Jeden Tag und jeden Abend war die Tafel reich gedeckt gewesen. Griechische Kaufleute und römische Gesandte hatten eine Ahnung von der Welt in die Säle der Residenz gebracht. Er hingegen war in den engen Gassen groß geworden, auf die sie früher hinabgeblickt hatte. Sein Großvater und sein Vater waren von jenem König hingerichtet
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