Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
Grausamkeit verbarg, die die Zeit zum Vorschein bringen würde. Von allen ähnelte Antipas seinem Vater Herodes am meisten. Und Philipp am wenigsten. Der jüngste der Söhne war wie eine Apparatur, der man keine Emotion entlocken konnte, und Augustus hätte ihn genau deshalb sicher am liebsten auf dem Thron Judäas gesehen. Doch Philipp war zu jung, fast noch ein Kind, und er verfügte weder bei den Soldaten noch bei den Beamten seines Landes über einen Klüngel, der ihn unterstützt hätte. Theudions Inthronisation wiederum war völlig illusorisch: Er war im Testament praktisch ignoriert worden, und Augustus würde den letzten Willen seines toten Freundes nicht auf so eklatante Weise auf den Kopf stellen.
Es blieb nur Archelaos übrig. Umso wichtiger war es, ihn aufzurütteln, ihm einen Funken Ehre einzuhauchen.
»In der Tat«, bestätigte Nikolaos die Frage seines Schützlings und faltete die Hände vor dem Bauch. »Es ist einem König nicht angemessen, sich in einer solchen Gegend herumzutreiben und Schankmädchen mit Schmuck zu beschenken. Auch um der guten Erinnerung wegen nicht. Ein König sollte …«
»Ach, hör schon auf mit diesem Gerede vom König«, platzte Archelaos dazwischen und setzte sich auf einen schmutzigen Treppenabsatz. Er steckte seinen Kopf zwischen die Knie und jammerte: »Seit zehn Tagen schon hält Augustus mich hin. Keinem von uns hat er bisher das Erbe bestätigt. Er mag mich nicht, das spüre ich deutlich. Wenn ich freundlich zu ihm bin, gibt er mir das Gefühl, eine Schranze zu sein, trete ich fordernd auf, behandelt er mich wie einen frechen Ehrgeizling. Und heute Nachmittag ist er ohne ein Wort zur Kur gefahren, und ich muss zwei weitere Wochen warten. Dabei habe ich ihm nichts getan, im Gegenteil. Niemand verehrt sein Rom so wie ich.«
Nikolaos griff sich in den Bart. Er hatte Augustus jahrelang als Berater für den Osten zur Seite gestanden und kannte ihn. Augustus war so kalt, wie seine grauen Augen vermuten ließen, ein nüchterner Rechner mit der Begabung, die größere Wahrscheinlichkeit zu erkennen und auf sie zu setzen. Während ganz Rom beim Wagenrennen leichtherzig auf die bestaussehenden, muskulösesten oder gefälligsten Lenker setzte, dachte Augustus nur an die Kolbenhärte der Räder und die Erfahrung der einzelnen Pferde – und gewann fast immer. Er hatte nicht den geringsten Spaß an den Rennen, aber er gewann, während viele andere mit leichterem Geldbeutel, jedoch vergnügt nach Hause gingen. So war Augustus. Wenn er Archelaos das Erbe bisher noch nicht bestätigt hatte, hatte das nichts mit Sympathie zu tun. Es gab einen triftigen politischen Grund – oder jemand hatte ihm einen solchen eingeredet.
»Sicher gefiel ihm dein Vorgehen gegen die knesset nicht, was ich gut nachvollziehen kann. Deine Entscheidung zur schnellen Gewalt zeugte von Unreife.«
Archelaos hob seinen Kopf und sah Nikolaos mit geröteten Augen an. »Sie haben mich gereizt, und da …« Seine Faust hämmerte auf sein eigenes Knie. »Ich war nicht bei mir«, sagte er mit belegter Stimme. »Und du hast geschlafen. Es ist nicht gerecht, dass ich von dir und Augustus wegen eines einzigen Fehlers derart gemein behandelt werde. Du weißt, dass ich sonst nie hart gehandelt habe.«
Ihm fiel noch etwas ein, das er nicht an Archelaos mochte, dachte Nikolaos. Er war ein entsetzlicher Jammerlappen.
» Ich behandele dich gemein?« Nikolaos atmete tief durch. »Ich habe heute vor seiner Abfahrt mit Augustus gesprochen«, offenbarte er Archelaos. »Ich habe ihm dargelegt, dass dein Verhalten gegen die Volksversammlung nichts anderes als Loyalität gegen Rom bewiesen habe, dass diese Leute allesamt romfeindliche Aufwiegler und religiöse Eiferer waren, dass du vielleicht überreagiert hast, aber nur zum Nutzen und nicht zum Schaden Roms. Damit habe ich Augustus zwar nicht direkt angelogen, wahr würde ich es jedoch auch nicht nennen, was ich da gesagt habe. Ich und gemein! So gemein möchte ich auch einmal von jemandem behandelt werden.«
Archelaos’ Blässe verschwand schlagartig. » Das hast du gesagt?«
»Oh ja, und ich glaube, bei ihm etwas erreicht zu haben. Augustus wird dich wohl noch eine Weile hinhalten, doch nach seiner Rückkehr aus der Kur als König bestätigen. Er hört auf meine Worte, denn ich habe ihm noch nie einen Rat gegeben, der nicht zu seinem Vorteil war. Also enttäusche mich nicht, Archelaos, und vor allem – enttäusche Augustus nicht.«
Archelaos überhörte die Warnung.
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