Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
sie gedankenverloren ihren Blick über Roms Tempel, Villen und Arenen schweifen ließ, faltete sie den Brief zu einem winzigen Viereck zusammen und verstaute ihn in ihrem Gewand. Ihr war klar, welchen Auftrag sie als Nächstes zu geben hatte, und rief nach ihrem secretarius .
»Bringe mir den Boten, der den Brief überbrachte«, befahl sie, und wenige Augenblicke später stand er vor ihr. Sie erkannte sofort, dass Akme den richtigen Mann ausgewählt hatte. Er hatte die Augen eines Mörders.
Sadoq lehnte am Türrahmen und beobachtete die Menschen, die auf der staubigen, ungepflasterten Gasse vorübergingen. Am jom rischon , dem ersten Wochentag, war es besonders lebhaft in der engen Unterstadt, wo Haus an Haus stand und kaum genug Platz für die Kräuterkübel vor den Türen war. Kleine Händler warteten im Schatten ihrer duftenden Gewürzsäcke auf Kundschaft, Hirten trieben laut blökende Schafe zum Markt, Frauen trugen ihre Wäsche in Beuteln oder Flechtkörben zu nahen Bächen, Jungen und Rabbiner machten sich auf den Weg zu ihren Schulen, und Kaufleute nahmen begierig ihre Geschäfte wieder auf, die sie am Vortag, dem shabbat , hatten ruhen lassen. Nur die Bettler fehlten am jom rischon , denn sie gaben jenes Geld aus, das sie am gestrigen Feiertag reichlich geschenkt bekommen hatten. Auf den ersten Blick war alles wie sonst.
Doch seit der blutigen knesset hatte Jerusalem sich verändert. Eine seltsame Spannung lag über der Stadt. Konnte Sadoq früher an den Fenstern der anderen Häuser lehnen, seinen Kopf in die Küchen stecken und zur heißen Mittagszeit ein Schwätzchen mit den Nachbarn halten, fand er in letzter Zeit die meisten Läden geschlossen. Die Leute waren wortkarg geworden, jeder schien abgelenkt, schien auf etwas zu warten, ohne zu wissen, worauf. Alle senkten den Kopf und gingen mit schweren Schritten, trieben entweder ihre Esel nicht richtig an oder traten und schlugen sie mehr denn je. Trauer, Resignation und Wut lagen dicht beieinander.
Einige wenige hingegen waren in einer geradezu euphorischen Stimmung. Sie taten, als sei ihnen eine neue Sonne aufgegangen, und träumten von der Vertreibung der Herodianer. Und sie träumten von einer großen Schlacht, mit der sie alle Unterdrückung durch verweltlichte Halbgläubige und die Heiden abschütteln würden. Das Wort vom Messias machte die Runde, jener Gestalt, die sie eines Tages von allem Elend befreien würde. Von jeher verstand jeder unter diesem Namen etwas anderes. Für die einen war der Messias einfach ein gerechter Herrscher, ein Gesalbter, denn das bedeutete das Wort. Andere erwarteten im Messias eine Art Priesterkönig, wieder andere eine von Gott gesandte Erlösergestalt. Die Euphoriker jedoch erfanden nun eine ganz neue Deutung: Der Messias sollte ein machtvoller, rächender Kriegsfürst sein, und sein Kommen war nahe.
Zu denen, die so dachten, gehörte auch Sadoqs bester Freund Zelon. Der Name kam aus dem Griechischen und bedeutete »der Eifrige«. Tatsächlich war Zelon von allen Freunden immer der Aufgeweckteste und Leidenschaftlichste gewesen, der keine Langeweile kannte und alles ausprobierte, was die Gebote zuließen – manchmal auch, was sie nicht zuließen, was er früher mit einem Augenzwinkern abtat. Doch auch er hatte sich unter dem Eindruck der blutigen knesset verändert und redete ständig über Politik und Glauben, was er früher kaum getan hatte. » Shalom , Sadoq«, begrüßte ihn Zelon. »Was tust du hier? Keine Arbeit?«
» Shalom , Zelon. Nein. Das Geschäft geht nicht gut, seit die Römer und Griechen unsere Stadt aus Vorsicht meiden.«
»Ach, die Heiden brauchst du nicht«, meinte Zelon. »Ohne die sind wir besser dran. Was ist schon Geld? Ich sage dir, du könntest …« Er unterbrach sich und trat einen Schritt näher an Sadoq heran. Flüsternd sprach er weiter. »Schließe dich doch der Gruppe an, der ich angehöre. Wir werden schon sehr bald eine heilige Aufgabe erfüllen und können jeden gebrauchen.«
»Welche heilige Aufgabe?«
Zelon sah ihn misstrauisch an. »Das sage ich dir erst, wenn du unserer Gruppe angehörst. Du wärst willkommen, denn du hast einen guten Namen, seit du diesen herodianischen Hund getötet hast.«
»Du meinst den Soldaten.«
»Das Volk hat bei dem Gemetzel vierunddreißig Männer verloren, die Wache der Königsfamilie nur einen Mann. Und den hast du getötet. Jeder kennt nun deinen Namen. Für uns bist du ein Held, Sadoq, nur du selbst willst noch keiner sein.«
»So
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